Querschläger
Raum erfüllte, schien allem und jedem die Feuchtigkeit zu entziehen, und plötzlich empfand auch Verhoeven einen brennenden Durst. Er überlegte, wann er zuletzt etwas getrunken hatte, aber alles, was ihm einfallen wollte, war seine Tochter. Immer und immer wieder Nina. Ninas Entsetzen. Ihre angstvoll geweiteten Augen. Aber auch ihr Lachen. Ihre Vorfreude darauf, dass sie Fische haben würden. Er dachte an die Wasserflasche, die sie ihm an seine wenig eindrucksvolle Teichbaustelle gebracht hatte, und fühlte, wie die Erinnerung ein Lächeln über sein Gesicht goss. Erst als ihm klar wurde, dass die Kollegen seinen Gesichtsausdruck in einer Situation wie dieser als vollkommen deplatziert empfinden mussten, hörte er auf zu lächeln.
»Fest steht, dass Hrubesch sich gehörig auf den Hosenboden hätte setzen müssen, um sein Abitur zu schaffen«, bemerkte Höppner hinter seinem Pult, bevor er sich zum wiederholten Male räusperte. Einer der Beamten aus der ersten Reihe stand auf und stellte ihm ein Glas Wasser hin. Ob der Einsatzleiter diese fürsorgliche Geste allerdings überhaupt bemerkte, blieb offen, denn er fuhr umgehend fort: »Andererseits kann man in Hrubeschs Fall kaum von einer total verpfuschten Schullaufbahn sprechen, wie einige Medien vorschnell berichtet haben. Die familiäre Situation des Jungen ist hingegen noch weitgehend ungeklärt.« Höppner seufzte. »Sie alle kennen die Faktoren, die solche Bluttaten normalerweise auslösen, und es ist durchaus wahrscheinlich, dass es gewisse familiäre Probleme gegeben hat. Allerdings nichts, das allzu offen auf der Hand läge, sonst hätten sich unter Garantie schon ein paar wissende Nachbarn zu Wort gemeldet.« Er griff nach dem Wasserglas und trank ein paar Schlucke, bevor er mit hörbar erfrischter Stimme hinzusetzte: »Im Übrigen galt Nikolas Hrubesch allenthalben als verschlossen und soll überdies erst vor kurzem von ein paar Schülern seiner Jahrgangsstufe gemobbt oder doch zumindest erheblich geärgert worden sein. Ob diese Informationen tatsächlich zutreffen, werden die Ermittlungen der nächsten Stunden und Tage zeigen. Allerdings spielt Rache, wie Sie alle wissen, bei solchen Taten oft eine entscheidende Rolle.« Lars Höppner hielt abermals inne und reckte den Kopf, weil sich einer der Beamten aus der hintersten Reihe per Handzeichen zu Wort gemeldet hatte.
»Ja?«
»Existiert so etwas wie ein Abschiedsbrief des Amokschützen?«, wollte der Kollege wissen, den Verhoeven noch nie zuvor gesehen hatte und daher auch keiner Abteilung zuordnen konnte. »Oder ein Videoband?«
Höppner schüttelte den Kopf. »Nein, die Kollegen haben bislang nichts dergleichen gefunden.«
Natürlich nicht, dachte Verhoeven. Denn wenn es stimmt, dass Nikolas Hrubesch seinen Amoklauf überleben wollte – warum hätte er der Welt dann ein Abschiedsvideo hinterlassen sollen?
3
Karen Ringstorff trank einen Schluck von ihrem Rotwein und starrte auf die Kante ihres Couchtischs hinunter. Sie trug noch immer dieselben Sachen, mit denen sie am Morgen das Haus verlassen hatte. Hose. Bluse. V-Pulli. Nicht einmal ihre Schuhe hatte sie ausgezogen, obwohl sie sie nun schon mehr als vierzehn Stunden an den Füßen hatte.
Sie war von einem SEK-Beamten in schwarzer Montur und kugelsicherer Weste zu einem Transporter geführt, registriert und auf die Liste der Überlebenden gesetzt worden, sie hatte Fragen beantwortet und Kollegen umarmt. Zuvor war sie ziel- und planlos durch die Zelte geirrt, die von den Einsatzkräften in aller Eile in einem nahe gelegenen Park errichtet worden waren, um eine rasche Erstversorgung der Verletzten sicherzustellen. Sie hatte Hände geschüttelt, die sich ihr entgegengestreckt hatten, sie hatte in fassungslose Gesichter geblickt und weinende Schülerinnen getröstet, die sie zum Teil nicht einmal gekannt hatte. Was sie in diesen seltsam intimen Momenten gesagt, ob sie Worte des Trostes gefunden hatte, konnte sie rückblickend nicht mehr sagen. Sie wusste nur, dass sie irgendwann viel später, lange nach Anbruch der Dunkelheit, nach Hause gefahren war. Per Taxi. Ihr Golf stand noch immer auf dem Parkplatz hinter der Schule, und sie fragte sich, wann sie die Energie aufbringen würde, sich wieder hinter das Steuer zu setzen. Wie lange es dauern würde, bis wieder so etwas wie Normalität einkehrte. Ob es überhaupt jemals wieder normal zugehen würde in ihrem Leben. Und in dem der anderen …
Sie starrte in ihr Glas hinunter, das bereits wieder zur
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