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Querschläger

Querschläger

Titel: Querschläger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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dachte an Beate Soltau, die langjährige Schulsekretärin, die gestorben war, weil sie sich an einem Ort befanden hatte, an dem sie in der fünften Stunde, zum Zeitpunkt der Bluttat, gar nicht mehr hätte sein dürfen. In der Bibliothek, um genau zu sein, die dienstags nur während der großen Pause und in der anschließenden vierten Stunde geöffnet hatte. Nur heute, ausgerechnet an diesem besonderen, an diesem unsäglichen Dienstag … Karen Ringstorff kniff die Augen zusammen, als die Kante des Couchtischs unter ihrem Blick zu verschwimmen begann. Beate Soltau ist in der Bibliothek gewesen, weil das Schicksal es mit ihr ganz offensichtlich nicht so gut gemeint hat wie mit mir, dachte sie schaudernd, während für einen kurzen Moment das Gesicht der Schulsekretärin in ihr aufblitzte. Sie wusste nicht viel über die Frau mit den schulterlangen braunen Haaren, die immer so freundlich gegrüßt hatte, wenn sie einander auf dem Gang begegnet waren. Nur dass Beate Soltau klassische Musik gemocht und auch mal schnell und unbürokratisch Abhilfe geschaffen hatte, wenn zu viele Schüler aus Karen Ringstorffs Deutschkurs die Lektüre, die sie gerade durchnahmen, zu Hause vergessen hatten. Einen Klassensatz Faust 1? Aber sicher doch, Frau Ringstorff, ich schließe hier nur schnell ab, dann gehe ich mit Ihnen nach oben. Und wenn Sie es nachher nicht mehr schaffen, macht es auch nichts. Es reicht vollkommen, wenn Sie mir die Bücher morgen in der großen Pause vorbeibringen.
    Warum, um alles in der Welt, bist du auch immer so freundlich gewesen?, dachte Karen Ringstorff, indem sie sich eine Begegnung mit Beate Soltau auf einem Frankfurter Trödelmarkt ins Gedächtnis rief. Ich liebe alte Sachen, hatte die Sekretärin mit verklärtem Blick geschwärmt und Karen Ringstorff dann voller Stolz ein entschieden scheußliches Kruzifix präsentiert, das sie günstig erstanden habe, weil dem Gekreuzigten im letzten Weltkrieg bedauerlicherweise beide Füße und obendrein ein Stück vom Kopf abhanden gekommen seien. Aber das sei ja im Grunde halb so schlimm, nicht wahr, immerhin sei das Wesentliche an einem Kreuz doch wohl das Kreuz, oder etwa nicht?
    Karen Ringstorff hatte die Sekretärin mit einem mitleidigen Lächeln bedacht und dann pflichtschuldig eine der seltenen Ausgaben hergezeigt, nach denen sie von Zeit zu Zeit die Flohmärkte und Antiquariate der Umgebung abklapperte. Oh mein Gott, jetzt sehen Sie doch nur mal, wie hübsch das illustriert ist, hatte Beate Soltau gerufen und dabei verzückt in Hans Christian Andersens Märchen geblättert, das waren noch Zeiten, als sich die Verlage so richtig Mühe mit ihren Büchern gegeben haben, nicht wahr? Ganz anders als heute, wo alles immer bloß bunt und schrill und plakativ sein muss!
    Karen Ringstorff strich sich ein paar verirrte Haare aus dem Gesicht und verspürte mit einem Mal eine tiefe, bodenlose Traurigkeit. Wenn Beate Soltau an ihrem Platz im Sekretariat gewesen wäre anstatt in der Bibliothek, pochte es hinter ihrer Stirn. Wenn sie sich nicht aus irgendeinem unerfindlichen Grund verspätet hätte an diesem Vormittag …
    Ich sollte mich bei Frau Soltau melden, hörte sie unvermittelt wieder Mareike Gruners Stimme sagen, aber die war nicht da, und da dachte ich …
    Karen Ringstorff griff wieder nach ihrem Glas. Beate Soltau hätte mit diesem Mädchen gehen sollen, dachte sie. Dann hätte sie neben dem Erste-Hilfe-Kasten gestanden, als die ersten Schüsse fielen. Dann hätte sie überlebt. Dann hätte sie sich retten können, so wie ich mich retten konnte. Aber stattdessen ist sie in der Bibliothek gewesen, wo man sie erschossen hat. Ihre Hand, die das Rotweinglas hielt, begann zu zittern. Wie nannte man so etwas? Schicksal? Fügung? Oder ganz einfach Pech?
    Sie wusste es nicht.
    Sie hoffte nur, dass sie endlich betrunken genug wäre, um nicht länger darüber nachdenken zu müssen.
    4
    Die Schule war noch immer weiträumig abgeriegelt, als Verhoeven und seine Partnerin an der Aarstraße eintrafen, und die Kontrollen, denen sie sich unterziehen mussten, waren schärfer als bei einem Interkontinentalflug. Allein drei Mal mussten sie sich ausweisen, um bis an die letzte Absperrung zu gelangen.
    Über dem gesamten Gelände lag eine tiefe, unnatürliche Stille, unterbrochen einzig vom Rauschen und Knacken des Polizeifunks, das aus dem Inneren der zahllosen Einsatzfahrzeuge drang. Mannigfaches Blaulicht flackerte über die Fassaden der umliegenden Häuser, und gegen ihren Willen

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