Querschläger
Hälfte leer war.
Schon an der Wohnungstür hatte ihr der Widerschein ihres Anrufbeantworterlämpchens entgegen geflimmert, grün blinkende Signale eines wie auch immer gearteten Interesses an ihr und ihrem Wohlergehen. Aber sie hatte es nicht über sich gebracht, die Wiedergabetaste zu drücken. Das Einzige, was sie getan hatte, war, ihre gänzlich in Tränen aufgelöste Mutter in Köln anzurufen, und selbst das bereute sie inzwischen bitterlich. Normalerweise hatten sie nur wenig Kontakt, aber das Massaker lief auf allen Kanälen, und ihre Mutter war nun einmal ihre Mutter. Also hatte Karen Ringstorff es für angebracht gehalten, sie anzurufen. Zu sagen, dass es ihr gut gehe. Den Umständen entsprechend. Dass sie unverletzt geblieben war. Zumindest rein äußerlich. Doch ihre Mutter hatte nichts anderes getan, als herumzuschreien und sich anschließend mit kaum gebändigter Hysterie zu erkundigen, warum sie sich nicht längst gemeldet habe. So habe sie über die Angehörigen-Hotline der Wiesbadener Polizei erfahren müssen, dass ihre einzige Tochter nicht unter den Todesopfern des Amoklaufs gewesen sei. Das ist kein guter Stil, hatte sie geschluchzt. Und angesichts dieses Schluchzens hatte Karen Ringstorff darauf verzichtet, ihrer Mutter zu erklären, dass sie all diese Stunden, die seit der Tat vergangen waren, gebraucht hatte, um sich darüber klar zu werden, dass sie noch lebte.
So seltsam das klang, aber etwas in ihr registrierte erst jetzt, dass sie davongekommen war. Sie schenkte sich Rotwein nach und dachte an den BKA-Beamten, der sie befragt hatte. An den Ausdruck auf seinem Gesicht, als er sich erkundigt hatte, warum sie zum Zeitpunkt des Amoklaufs nicht im Lehrerzimmer gewesen sei. So wie sonst auch.
»Es war Ihre Freistunde?«, hatte er gefragt, und sie hatte genickt. »Haben Sie jeden Dienstag in der fünften Stunde frei?«
»Ja, seit Beginn dieses Schuljahres.«
»Und dann?«
»Wie meinen Sie das?«
»Was haben Sie anschließend? In der sechsten Stunde?«
Sie hatte wirklich und wahrhaftig überlegen müssen, aber das hatte er wahrscheinlich auf die Situation geschoben. Auf den Ausnahmezustand, in dem sie sich alle seit ein paar Stunden befanden. »Deutsch«, hatte sie geantwortet, als sie sich endlich sicher gewesen war. »Einen Grundkurs. Elfte Klasse.«
Der Polizist hatte sie angesehen und gelächelt, aber sie war sich nicht sicher gewesen, ob er es ernst gemeint hatte. Ob er ihr tatsächlich freundlich gesonnen war. »Wäre praktischer, wenn das gleich die fünfte Stunde wäre, was?«
Sie hatte nur verständnislos den Kopf geschüttelt.
»Dann könnten Sie früher nach Hause gehen.«
»Ach so.« Sie hatte ebenfalls zu lächeln versucht und anschließend erklärt, dass sie ohnehin in der Schule bleiben müsste, weil sie am Nachmittag noch die Theater-AG leite, Grundkurs hin oder her.
»Theater, hm?« Der Beamte hatte interessiert den Kopf gehoben. »Unsere Tochter macht jetzt auch was in dieser Richtung. Ist ganz verrückt danach. Musical und so, Sie wissen schon. Sie will sogar Schauspielerin werden, wenn sie mit der Schule fertig ist. Oder Sängerin.«
»Aha.«
»Wir hoffen natürlich, dass das alles nur eine Phase ist.«
Karen Ringstorff hatte mit ihm gelacht und sich dabei im Stillen gefragt, warum er bei allem Ernst der Lage so vertraulich tat. Und warum er an einem Tag, der so viele Opfer gefordert hatte, ausgerechnet ihr so viel Zeit widmete. Was er von ihr wollte …
»Aber für gewöhnlich verbringen Sie Ihre Freistunde schon im Lehrerzimmer, oder?« Von einer Sekunde zur anderen war sein Tonfall wieder hart gewesen. So hart, dass Karen Ringstorff erschreckt zusammengezuckt war. Klartext. Ende der plumpen Vertraulichkeiten. Punktum.
Sie hatte genickt. »Ja.«
»Immer?«
»In der Regel ja.«
»Nikolas Hrubesch könnte das gewusst haben?«
Sie hatte ihn angesehen und entgegnet: »Jeder könnte das gewusst haben.«
»Warum waren Sie ausgerechnet an einem Tag wie dem heutigen nicht dort, wo Sie sonst immer sind?«
Und in diesem Augenblick hatte sie auch endlich verstanden, worauf der Beamte hinauswollte, und sie hatte von der verletzten Schülerin erzählt und vorsichtshalber auch gleich deren Namen genannt.
Mareike Gruner …
Den Namen wusste sie, weil sie das Mädchen gefragt hatte, wie es heiße, als sie nach den ersten Schüssen auf den Gang hinausgespäht hatten. Da hatten sie den Körper der fremden Frau auf dem Flur liegen sehen, und sie hatte sich etwas
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