Querschläger
nachdenklicher Miene zu seiner Kollegin zurück.
»Und?«, fragte Winnie Heller mit sorgsam gedämpfter Stimme, obwohl Welling noch immer vor dem Werkraum stand und überdies bereits ein Handy am Ohr hatte. »Was denken Sie?«
Anstelle einer Antwort nahm ihr Vorgesetzter sie beim Arm und zog sie auf den Gang hinaus. Im Vorbeigehen betätigte er den Lichtschalter neben der Tür, sodass der Raum, in dem sich Sven Strohte versteckt hatte, nun vollkommen im Dunkeln lag. »Unser Zeuge kommt von hier.« Er schob sie vor sich her, während er sprach, und Winnie Heller hatte alle Mühe, nicht laut aufzuschreien, als er dabei zufällig auch ihre abgeschürfte Schulter berührte. »Der Junge ist in Panik. Er weiß, dass er nicht viel Zeit hat, denn Hrubesch ist ihm dicht auf den Fersen. Und er hat die freie Auswahl.« Verhoevens Blicke glitten über die Türen, die rechts und links abzweigten und die bis auf wenige Ausnahmen alle geöffnet waren. »Welchen Raum würden Sie an seiner Stelle gewählt haben?«
Winnie Heller berührte wieder ihre Wange, weil sie das beklemmende Gefühl hatte, dass sich ihr Make-up allmählich in Wohlgefallen auflöste. Aber vielleicht lag das auch nur daran, dass Verhoeven ihr eben so nahe gekommen war. »Vermutlich würde ich gar nicht erst auf den Gang gelaufen sein, wo ich sozusagen ohne Deckung dastehe«, beeilte sie sich, seine Frage zu beantworten, bevor er misstrauisch wurde. »Stattdessen würde ich wahrscheinlich versucht haben, mich irgendwo in diesem zweiten Umkleideraum zu verstecken. Da, wo Hrubeschs Leiche lag.«
Ihr Vorgesetzter nickte. »Das wäre in der Tat das Naheliegendste, nicht wahr? Und ganz offenbar ist es auch das, was Hrubesch angenommen hat.«
»Aber wenn ich mich aus irgendeinem unerfindlichen Grund doch für den Flur entschieden hätte«, spann Winnie Heller den Faden weiter, weil ihr bereits dämmerte, worauf Verhoeven hinaus wollte, »wäre ich höchstwahrscheinlich nach links gelaufen und hätte mich in einem der Räume dort hinten versteckt.«
»Warum?«, fragte er mit einem Lächeln, das zufrieden wirkte.
»Weil in dieser Richtung der Ausgang ist, schätze ich«, antwortete Winnie Heller ohne Zögern. »Vermutlich würde ich angenommen haben, dass ich auf diese Weise das Treppenhaus erreichen kann, wenn ich eine günstige Gelegenheit abpasse. Aber wie Sie schon sagten, war der Junge in Panik und …« Sie ließ den Satz offen und sah ihren Vorgesetzten an.
»Na schön, Sven Strohte nimmt, wie wir wissen, die andere Richtung.« Verhoeven fasste wieder nach ihrem Arm und zog sie zurück zu dem Raum mit dem Warmwasserbereiter, zurück zum Hausmeisterzimmer, wie Winnie Heller es im Stillen getauft hatte. »Er wählt die unwahrscheinlichste aller Varianten, wendet sich nach rechts und flüchtet ausgerechnet hierher. Was sagen Sie dazu?«
»Zugegeben, es sieht auf den ersten Blick nicht gerade einladend aus«, räumte Winnie Heller mit einem leisen Lächeln ein. Und das ist noch verdammt vorsichtig formuliert, ergänzte sie in Gedanken. Die Tür vor ihnen stand zwar noch immer offen, doch vom Flur aus drang nur ein schwacher Lichtschein ins Innere des Raumes. Die paar Quadratmeter, die man mit einiger Mühe übersehen konnte, waren staubig und leer. Selbst von den Gerätschaften, die nahe bei der Tür standen, waren allenfalls Schemen zu erkennen.
»Nichtsdestotrotz ist dieser Raum im Hinblick auf ein gutes Versteck eine ausgezeichnete Wahl«, bemerkte Verhoeven bissig, indem er nun auch das Licht wieder anmachte. »Genau genommen ist er nach allem, was ich bislang gesehen habe, sogar die beste aller sich bietenden Möglichkeiten.«
Winnie Heller biss auf ihre lädierte Unterlippe, doch zu ihrer Verwunderung blieb der Schmerz dieses Mal aus. »Glück?«
Ihr Vorgesetzter antwortete mit einer Gegenfrage: »Was glauben Sie, wie viele Schüler dieser Schule auf Anhieb sagen könnten, was sich hinter dieser Tür befindet?«
Winnie Heller sagte nichts, aber sie dachte daran, wie sie selbst schon als Grundschulkind alle möglichen Räume inspiziert, hinter Vorhänge geschaut und neue Wege abseits der bekannten Routen ausprobiert hatte. Noch heute suchten ihre Blicke automatisch nach Schildern für Notausgänge oder sonstige Fluchtwege, sobald sie ein Gebäude betrat, sie konnte sagen, wo sich der Nothammer befand, wenn sie in einem Zug saß, und wann immer sie an einer geschlossenen Tür vorbeikam, die aus irgendeinem unerfindlichen Grund ihr Interesse erregte,
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