Querschläger
entgegen, und sie überlegte, ob es irgendeine Rolle spielte, dass die Halle derzeit wegen Bauarbeiten geschlossen war. Ob Nikolas Hrubesch diese Tatsache vielleicht sogar einkalkuliert hatte, als er Sven Strohte anwies, eine knappe halbe Stunde vor dem Amoklauf ins Untergeschoss des Neubaus zu kommen …
Von einem weiteren Treppenhaus am rückwärtigen Ende der Turnhalle kam ihnen eine Gruppe von Kriminaltechnikern entgegen. Drei Männer und eine Frau. Ihre Blicke trafen sich kurz, aber niemand grüßte. Es schien fast, als versuche jeder Einzelne von ihnen, auf eine stille, fast meditative Weise mit dem, was an diesem Ort geschehen war, fertig zu werden.
»Hier entlang.«
Der Beamte, der sie führte, hastete eine fünfstufige Treppe hinauf, an deren oberem Ende eine Glastür ins Treppenhaus des Neubaus führte. Rechter Hand hing ein schlichtes weißes Schild, das auf die Bauarbeiten in der dahinter liegenden Turnhalle hinwies. Unmittelbar darüber hingen Elektrokabel von der Decke herab wie lange, schwarze Schlangen. Dicke Rollen mit Isoliermaterial waren entlang der Wände aufgereiht, allenthalben roch es nach Mörtel und Kalk.
Winnie Heller stolperte hinter Verhoeven her, eine breite, mit rutschfesten Plastikkanten versehene Steintreppe hinunter. Aus dem Untergeschoss schlug ihnen ein typischer Souterrainmief entgegen. Feuchter Staub und alter Schweiß, dazu ein Hauch von Schimmel.
»Das dort drüben ist der Putzraum, in dem Sven Strohte auf Hrubesch warten sollte«, erklärte der Mann in Schwarz, ohne seinen Schritt nennenswert zu verlangsamen. »Dieser Raum hier rechts war für den Kleidertausch vorgesehen, und hier …« Er stoppte ein paar Meter weiter vor einer geöffneten Tür und ließ den beiden Kommissaren den Vortritt. »Hier haben die Kollegen vom SEK Hrubeschs Leiche gefunden.«
Als sie eintraten, fürchtete Winnie Heller einen kurzen Moment lang, sie könnten Lübke begegnen, doch in dem Umkleideraum, in dem der junge Amokschütze sein Leben verloren hatte, befanden sich lediglich zwei von Lübkes Untergebenen. Sie hatten ihre silbernen Einsatzkoffer auf einer der wackligen Holzbänke abgestellt und nahmen am entgegengesetzten Ende des Raumes Fingerabdrücke von einer Reihe von Spinden. Ob sie sich von dieser Maßnahme tatsächlich etwas versprachen oder einfach nur ihre Pflicht taten, blieb ihr Geheimnis.
»Hrubesch hat dahinten gelegen.« Der Beamte, den ein über der Brust befestigtes Plastikschild als Mario Welling auswies, deutete auf eine mit Klebeband markierte Stelle zwischen zwei Spindreihen. »Oder vielmehr: Dort saß er, den Rücken gegen den Spind gelehnt.«
»Wo war die Pistole?«, erkundigte sich Verhoeven, obwohl sie die Antwort auf diese Frage bereits kannten.
»In seiner Hand«, antwortete Welling routiniert. »Das Magazin war noch fast voll. Aber natürlich hatte er zu diesem Zeitpunkt schon ein paar andere verschossen.«
»Und das Jagdgewehr?«
»Lehnte neben ihm an der Wand.«
»War es geladen?«
»Ja.«
Verhoeven tauschte einen Blick mit seiner Kollegin, und wie schon zuvor in Hinnrichs’ Büro dachte Winnie Heller, dass jemand, der gerade elf Menschen erschossen und den Tod von unzähligen weiteren in Kauf genommen hatte, sich auf keinen Fall so ohne Weiteres einem möglichen Angreifer ergeben haben würde, selbst wenn es diesem irgendwie gelungen wäre, an die Pistole zu kommen. Nicht, solange sich noch ein geladenes Jagdgewehr in seinem Besitz befand.
Zu dritt zwängten sie sich zwischen den Spinden hindurch, die rostig und zum Teil auch reichlich verbeult waren.
So unübersichtlich, wie es hier ist, hätte sich ein möglicher zweiter Schütze durchaus unbemerkt an Nikolas Hrubesch heranschleichen können, resümierte Winnie Heller. Noch dazu, wenn Hrubesch im fraglichen Moment mit der Suche nach Sven Strohte, seinem auserwählten Sündenbock, beschäftigt gewesen war. Sie tastete nach dem Raumplan, den sie vor ihrem Aufbruch zusammengefaltet und in die Gesäßtasche ihrer Jeans gestopft hatte, und warf einen flüchtigen Blick auf die Zeichnung. Der Umkleideraum, in dem Nikolas Hrubesch seinen Mitschüler mit vorgehaltener Pistole zum Ausziehen seiner Kleider aufgefordert hatte, war von dem Zimmer, in dem sie jetzt standen, lediglich durch eine heruntergekommene Sanitäranlage getrennt. Jene Sanitäranlage, durch die Sven Strohte entkommen konnte, ergänzte Winnie Heller, indem sie den Plan wieder einsteckte. Sie sah sich nach Verhoeven um, der jedoch nach wie
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