Querschläger
Münzeinwurf, und ein paar Meter weiter verriet eine verschmierte brombeerfarbene Lache, dass dort erst vor Kurzem ein Mensch in seinem eigenen Blut gelegen hatte. Die Mutter zweier kleiner Kinder, wie Winnie Heller einem der eilig zusammengestellten Informationsblätter entnommen hatte. Jana Weinand, die den Außendienstjob bei einer Firma für Lernsoftware, der sie nun vielleicht das Leben kosten würde, erst seit ein paar Wochen innehatte und die ganz und gar zufällig vor den Lauf von Nikolas Hrubeschs Waffe geraten war, weil sie bis zu ihrem Gespräch mit dem Direktor der Schule noch eine Viertelstunde Zeit gehabt hatte und auf der Suche nach einem Platz gewesen war, an dem sie ungestört warten konnte.
Winnie Heller starrte auf den Blutfleck hinunter, der im Licht der zusätzlich aufgestellten Scheinwerfer beinahe schwarz wirkte. Ringsum markierten Streifen von Klebeband jene Stellen, an denen die Spurensicherung fündig geworden war. In einer Ecke lag ein vergessenes Plastikschild, das die Nummer Vier trug.
Winnie Heller verdrängte die neuerliche Erinnerung an Lübke und folgte stattdessen der Spur aus Klebestreifen, die an den Kopierern vorbei geradewegs ins Lehrerzimmer führte. Sie warf einen flüchtigen Blick hinein und dachte daran, dass sich Nikolas Hrubesch angeblich ganz gezielt nach einer bestimmten Lehrerin erkundigt hatte, bevor er den Raum in Richtung Treppenhaus verlassen hatte, um irgendwo im dritten Obergeschoss weiter zu morden. Nach einer gewissen Karen Ringstorff, die zur betreffenden Zeit eine Freistunde gehabt hatte, aber nicht im Lehrerzimmer gewesen war, weil … Winnie Heller stutzte. Weil sich jemand verletzt hatte, dachte sie, aber angesichts der Flut von Informationen, die in den vergangenen Stunden über sie hereingebrochen waren, traute sie ihrer eigenen Erinnerung nicht so ohne weiteres über den Weg. Und allmählich dämmerte ihr auch, wie lange es dauern würde, bis sie sich ein halbwegs brauchbares Bild von den Ereignissen gemacht hatten, die sich an dieser Schule zugetragen hatten. Zeit, die sie vielleicht nicht hatten. Ihre Augen kehrten zu dem Blutfleck auf dem Boden zurück, und sie überlegte, ob einer der Kollegen daran gedacht haben mochte, Sven Strohte unter Polizeischutz zu stellen. Ob irgendjemand es für nötig befunden hatte, einen Jungen zu schützen, der möglicherweise als Einziger wusste, dass Nikolas Hrubesch bei seiner wahnwitzigen Tat nicht allein gewesen war.
Als ein dunkel gekleideter Beamter auf sie zutrat, hob sie den Kopf.
»Sind Sie die Kollegen, die den Umkleideraum sehen wollen?«
Verhoeven bejahte.
»Gut, dann kommen Sie.«
Gegenüber vom Haupteingang führte eine breite Glastür auf den Pausenhof hinaus. Der Beamte in Schwarz ging voran. Auch hier draußen erhellten Scheinwerfer die hereinbrechende Nacht. Gesichtslose Schatten in weißen Overalls liefen zwischen den Stämmen der alten Kastanien umher und suchten jeden Zentimeter Boden nach Hinweisen ab, die möglicherweise überhaupt nicht existierten. Aber alle Beteiligten wussten, dass man nichts außer Acht lassen durfte. Nicht bei einer Sache wie der, die sich heute an dieser Schule ereignet hatte.
In einiger Entfernung entdeckte Winnie Heller einen Kollegen, den sie vor ein paar Monaten im Rahmen einer Fortbildung kennengelernt hatte. Doch er blickte nicht auf, nicht einmal, als sie auf Armlänge entfernt an ihm vorbeigingen. Winnie Heller drehte sich nach dem hell erleuchteten Altbau um. Vor Ort wirkten die Entfernungen weitaus größer als im Fernsehen. Selbst das viel beschworene Durchgangsgebäude, das Alt- und Neubau miteinander verband, war deutlich breiter, als Winnie Heller nach dem Studium des Raumplans erwartet hatte. Auf der Altbauseite klebte der östliche Treppenaufgang wie eine überdimensionale Murmelbahn, und sie dachte daran, dass Nikolas Hrubesch diese Stufen hinauf gehastet war, nachdem er das Lehrerzimmer verlassen hatte. Ob er wütend gewesen war, darüber, dass er die verhasste Lehrerin nicht angetroffen hatte? Hatte er deswegen dort oben umso heftiger gewütet? Oder hatte er einen guten Grund gehabt für alles, was er an diesem Vormittag getan hatte, einen Plan, etwas, das durchaus rationell war? Winnie Heller zog fröstelnd die Ärmel ihres Sweatshirts über ihre Handgelenke und blickte an der Fassade der Turnhalle hinauf, die im Gegensatz zu den übrigen Gebäudeteilen im Dunkeln lag. Hohe, finstere Scheiben, die wie erloschene Augen wirkten, glotzten ihr
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