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Querschläger

Querschläger

Titel: Querschläger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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blassblauen Augen. Dann drehte er sich abermals zu Welling um, der ihnen mit sorgsam gemessenen Schritten entgegenkam. »Vielen Dank, dass Sie uns alles gezeigt haben.«
    Der Angesprochene sagte nichts, sondern hob nur grüßend zwei Finger an die Schläfe. Dann verschwand er in einem der Räume zur Rechten.
    »Und wir«, wandte sich Verhoeven wieder an seine Kollegin, »machen uns jetzt auf den Weg in die Gerichtsmedizin.«
    Sie gingen nebeneinander her, vorbei an den gähnenden Türen, hinter denen die geisterhaften Silhouetten von Kleiderhaken und Duschköpfen schwebten.
    »Wann haben Sie eigentlich zuletzt was gegessen?«
    Winnie Heller dachte an das widerwillige Frühstück, das sie sich gemacht hatte, an den lauwarmen Milchkaffee und das lappige Aufbackbrötchen mit Butter, und staunte, dass sie noch immer nicht hungrig war. Oder durstig. »Ich hatte ein Sandwich.«
    »Wann?«, insistierte Verhoeven, indem er ihr mit routinierter Höflichkeit die Tür aufhielt.
    Sie schlängelte sich an ihm vorbei und dachte, dass er sich wie eine besorgte Mutter benahm. Etwas, das sie aus tiefster Seele verabscheute. Dennoch kam ihr ausgerechnet jetzt sein Angebot von gestern Abend wieder in den Sinn. Ich begleite Sie noch zu Ihrem Wagen. Wenn ich angenommen hätte, pochte es hinter ihrer Stirn, die sich urplötzlich wieder fiebrig heiß anfühlte. Wenn ich nicht so gottverdammt stur gewesen wäre und ihm erlaubt hätte, mit mir zu gehen … Sie schluckte und fühlte, wie ihre Hände zu schwitzen begannen und die Luft ringsum urplötzlich dünner zu werden schien. Substanzloser. Ihre Hand tastete nach dem Ausschnitt ihres T-Shirts, und nur mit allergrößter Selbstbeherrschung konnte sie sich davon abhalten, die letzten Schritte, die sie noch vom Pausenhof und der erlösenden Abendkühle trennten, zu rennen. Dabei hätte sie nicht einmal sagen können, ob sich die Wut, die sie empfand, sich tatsächlich nur gegen ihre eigene Dummheit richtete oder doch auch gegen ihren Vorgesetzten, der sich mit ihrem »Nein« so einfach zufriedengegeben und sie mutterseelenallein in die Nacht hinaus geschickt hatte. Der wahrscheinlich sogar heilfroh gewesen war, dass sie sein Angebot abgelehnt hatte, weil er auf diese Weise schneller nach Hause zu seiner hochheiligen Familie gekommen war. In sein sauberes, adrettes Nest.
    Winnie Heller stieß die Tür auf und hätte fast gestöhnt vor Erleichterung, als sich die kühle Abendluft wie eine sanfte Umarmung um ihre Schultern legte.
    Sie wissen, dass Sie ihm Unrecht tun, flüsterte ein imaginärer Dr. Zilcher in ihrem Kopf, als sie sich am Fuß der Treppe zu ihrem Vorgesetzten umdrehte. Er konnte nicht ahnen, was geschehen würde, ebenso wenig, wie Sie es ahnen konnten …
    Leck mich, dachte Winnie Heller und stapfte über den hell erleuchteten Schulhof davon.
    Doch Verhoeven ließ sich nicht abschütteln. »Wann genau haben Sie dieses Sandwich gegessen?«, wiederholte er seine Frage nach ihrer letzten Mahlzeit zum nunmehr dritten Mal, vielleicht, weil er annahm, sie habe ihm nicht zugehört. Vielleicht auch, weil er sie ärgern wollte.
    »Irgendwann gegen Mittag«, erwiderte sie patzig.
    »Gut«, sagte er. »Dann halten wir bei McDonald’s.«
    »Nicht für mich«, gab sie in unmissverständlich abweisendem Ton zurück. Dann stürmte sie weiter.
    5
    Jessica Mahler stand im Badezimmer. Draußen, auf der anderen Seite der Tür, waren die Atemzüge ihrer Mutter zu hören, die noch immer viel zu schnell gingen.
    Wenigstens hat sie endlich aufgegeben, auf mich einzureden, dachte Jessica Mahler, während sie darauf wartete, dass ihre Mutter ganz verschwand, Platz machte, das Feld räumte, damit sie das Badezimmer verlassen und zu Bett gehen konnte. Etwas Normales tun. Kraft schöpfen. Weitermachen, irgendwie.
    Sie fühlte, wie sich ihre nackten Füße auf den Fliesen in Eis verwandelten, und wusste, dass sie sie bald nicht einmal mehr spüren würde. Ich werde mich erkälten, dachte sie. Aber was machte das schon?! Dieser Tag hatte alles verschoben. Was gestern noch wichtig gewesen war, konnte man heute getrost als völlig gegenstandslos betrachten. Oder doch nicht? Was waren das für Zweifel, tief in ihr? Warum hatte die Erleichterung, dieses elementare Triumphgefühl, das sie beim Anblick von Lukas Wertheims Leiche empfunden hatte, nicht vorgehalten?
    Was hatte sich denn geändert?
    Sie überlegte fieberhaft, aber es wollte ihr einfach nicht gelingen, zusammenhängend zu denken. Vorhin hatte sie eine

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