Querschläger
Viertelstunde vor dem Fernseher gesessen. Eine Sondersendung über das Massaker, dem sie so knapp entronnen war. Sie hatte auf der Couch gesessen und in vertraute Gesichter geblickt. Doktor Malbusch, der Direktor der Schule, hatte Haltung bewahrt, auch wenn seine schwarze Krawatte ein wenig schief um seinen Hals gehangen hatte. Andere hatten hemmungslos geweint.
Du solltest dir das nicht ansehen, hatte ihre Mutter gesagt. Du brauchst Abstand.
Abstand! Jessica Mahler schüttelte den Kopf. Als ob man einfach einen Schritt zurücktreten könnte von einem Erlebnis wie diesem! Von der bittersüßen Erkenntnis, dass das Leid unzähliger Menschen einem selbst einen Vorteil gebracht hatte, weil unter all denen, die ihr Leben verloren hatten an diesem Vormittag, zufällig der Richtige gewesen war, der eine, dem sie nur Minuten zuvor so glühend und leidenschaftlich den Tod gewünscht hatte wie nichts zuvor.
Sie machte einen Schritt auf den Spiegel zu und wunderte sich, wie gut sie aussah. Wie heil. Wie unberührt. Trotz all der Tränen vorhin im Fernsehen. Rote Augen, rote Nasen, Entsetzen im Gesicht. Nur sie selbst sah aus, als hätte sie gerade einen Erholungsurlaub hinter sich.
Warum, dachte sie, kann ich nicht sein wie alle anderen? Reagieren wie die breite Masse? Einfach losheulen? Weil ich zu genau weiß, dass ich keinen Grund zum Weinen habe? Weil ich mich im Grunde freuen muss, dass alles so gekommen ist, wie es gekommen ist? Oder was sonst? Warum bin ich kein bisschen erschüttert? Wo bleibt der Schock? Statt Tränen noch immer Gebirgsklarheit im Kopf. Erleichterung über die Rettung, die Lösung ihres Problems, den guten Ausgang. Dabei waren doch so viele gestorben, heute früh. So viele andere. Unschuldige.
Jessica Mahler berührte ihre rosigen Wangen und versuchte, sich Frau Malgorias’ Gesicht vorzustellen. Die Farbe ihrer Augen. Den Schwung ihrer Lippen. Hatten sie einander denn nicht heute Vormittag noch gegenübergestanden? Waren denn nicht erst ein paar Stunden vergangen, seit die Lehrerin direkt vor ihrer Bank stehen geblieben war?
Wenn Sie fertig sind, können wir die Folie …
Wo waren ihre Erinnerungen?
Wo blieb die Trauer?
Und warum hatte ausgerechnet sie nicht zu den Mädchen gehört, die von Lukas Wertheim, dem Göttlichen, flachgelegt wurden? Ohne Grund flachgelegt, korrigierte sie sich im Stillen. Warum musste bei ihr immer alles so gottverdammt anders sein? Immer Haken, immer Hintergedanken. Dabei hätte es ihr doch im Grunde schon gereicht, wenn sie die Farbe der Tapete im Schlafzimmer dieser blöden Jagdhütte gewusst hätte, in die Lukas für gewöhnlich mit seinen Eroberungen verschwunden war. Und das Wissen um die Farbe dieser verfickten Tapete war gleichbedeutend mit einer Eintrittskarte. Einer Eintrittskarte in die Welt der Lukas-Wertheim-Verflossenen, die Welt der Normalen, der breiten Masse. In diese Welt zu gehören war am Ende vielleicht wirklich alles, was sie je gewollt hatte.
Oder doch nicht?
Was waren ihre Motive gewesen?
Warum war sie mit ihm gegangen, an diesem unglückseligen Abend?
Wieso hatte sie zugelassen, dass er sie in diese gottverdammte Falle lockte?
Dein Problem ist mit Lukas Wertheims Tod nicht gelöst, meldete sich eine hinterhältige kleine Stimme in ihrem Kopf. Noch nicht. Nicht, solange …
Jessica Mahler sah wieder in den Spiegel und beobachtete mit Erstaunen, wie sich ihr Gesicht veränderte. Wie ihr Mund aufklaffte, wie er zu einem riesigen schwarzen Loch wurde, in dem sich die Zähne wie dicke weiße Maden ringelten. Sie sah, wie sich das Fleisch über den Jochbeinen hob, wie ihr Teint die Farbe wechselte, von rosig-gesund zu grau-gelb. Wie sich ihr gesamtes Spiegelbild vor ihren Augen in eine grauenerregende Fratze verwandelte. Sie hörte ein knirschendes Geräusch und sah Scherben, die vor ihr auf den marmornen Waschtisch prasselten. Winzige Kristalle allenthalben. Glasbruch. Blut. Und ein Bild, das durch ihren Kopf zuckte wie ein Laserstrahl. Ein schwarz gekleideter Mann mit kalt glitzernden Augen hinter den Schlitzen seiner Skimaske. Und Sonnenlicht, das in ihrem Rücken durch eine Reihe von ungeputzten Fenstern fällt, bevor ihr Lachen genau wie die Welt um sie herum in Stücke bricht.
Ihre Finger tasteten nach dem Glas im Waschbecken, das im künstlichen Licht funkelte wie frisch gefallener Schnee an einem sonnigen Wintertag. Rodeln, dachte sie. Schneemann bauen. Eine Möhre für die Nase …
Das Nächste, was sie wahrnahm, war der Geruch
Weitere Kostenlose Bücher