Querschläger
sie hereinbrachen. Die Toilettenschüssel. Klopapier, mit dem sie wenig erfolgreich versucht hatte, die Spuren ihres Missgeschicks zu beseitigen. Ihre Mutter im Türrahmen, den Blick schreckensstarr auf die blutigen Glassplitter im Waschbecken gerichtet … Scheiße, dachte Jessica Mahler, ich muss sie beruhigen! Ihr erklären, dass ich nicht verrückt geworden bin. Dass ich einfach etwas Zeit brauche. Sonst holt sie am Ende noch einen Arzt oder einen Psychiater oder in ihrer Verzweiflung gar beides!
Ohne lange nachzudenken, stürzte sie aus ihrem Zimmer und stolperte die Treppe des engen Reihenhauses hinunter, das ihr Vater ihnen nach der Scheidung eher widerstrebend als bereitwillig überlassen hatte.
Bereits auf dem Absatz hörte sie die Stimme ihrer Mutter. Sie telefonierte, und aus dem, was sie sagte, schloss Jessica, dass sie mit Karen sprach. Tante Karen. Mamas beste Freundin. Sie blieb stehen und lauschte um die Ecke, wo eine abgestoßene Schiebetür ins Wohnzimmer führte.
»Ich finde, so darfst du das nicht sehen«, sagte ihre Mutter gerade. »Sonst wirst du niemals fertig mit dieser Sache, hörst du?«
Jessica Mahler zog verwundert die Augenbrauen hoch. Es kam nicht oft vor, dass ihre Mutter Tante Karen so etwas wie einen Ratschlag erteilte. Für gewöhnlich war – im Gegenteil – Karen Ringstorff diejenige, die riet. Die das Ruder in die Hand nahm. So war es schon immer gewesen, seit der Trennung ihrer Eltern, und Jessica Mahler hatte immer den Verdacht gehabt, dass ihre Mutter jemanden brauchte, der ihr sagte, was sie zu tun und zu lassen habe. Tante Karen hatte über die Farbe der neuen Küchentapete entschieden, genauso wie über den Termin für den Zoobesuch und den Ort, an dem sie einen gemeinsamen Skiurlaub verbracht hatten. Sie war konsultiert worden, als es darum gegangen war, welcher Kiefernorthopäde mit Jessicas Zahnregulierung zu betrauen sei, ebenso wie in der Frage nach der bestmöglichen Kombination von Grund- und Leistungsfächern. Und jetzt sollte Tante Karen vermutlich sagen, was Carola Mahler hinsichtlich eines mutwillig zerstörten Badezimmerspiegels unternehmen konnte …
Jessica hielt den Atem an.
»Bitte nicht«, sagte ihre Mutter, nachdem sie ihrer besten Freundin eine Weile schweigend zugehört hatte, »ich mache mir Sorgen, wenn du so redest.«
Sorgen? Jessica Mahlers Finger glitten ziellos über den Rauputz der Wand. Hieß das etwa, dass Tante Karen ausnahmsweise mal eigene Probleme hatte?
»Aber das ist doch kompletter Blödsinn«, fiel Carola Mahler ihrer Gesprächspartnerin in diesem Moment mit ungewohnter Entschlossenheit ins Wort. »Du musst …«
Verdammt! Jessica Mahler ließ sich auf die unterste Treppenstufe sinken und vergrub das Gesicht zwischen ihren zitternden Knien. Wo hatte sie nur ihre Gedanken? Warum verarbeitete ihr blödes Gehirn zurzeit alles so gottverdammt langsam? Natürlich hatte Tante Karen eigene Probleme! Immerhin war sie auch dort gewesen. Sie war selbst nur knapp dem Massaker entkommen, das Lukas Wertheim das Leben gekostet hatte. Sie war … Jessica Mahler stutzte, als sich unvermittelt wieder jene unangenehme Stimme zu Wort meldete, die sie schon gestern Abend gehört hatte. Lukas’ Tod hat dein Problem nicht gelöst, höhnte sie. Jedenfalls nicht auf Dauer. Schließlich gibt es irgendwo da draußen noch immer dieses verdammte Videoband! Es existiert, und eines Tages, wenn die Trauer abgeklungen ist, nehmen sich Lukas’ Eltern die Sachen ihres Sohnes vor, und dann entdecken sie inmitten von Sportklamotten und Pokalen eine Kassette, die euch, nein, die DICH in Aktion zeigt.
Jessica Mahler starrte ihre nackten Unterarme an, über die sich eine dicke Gänsehaut gebreitet hatte.
»Ach, ich weiß nicht recht«, sagte ihre Mutter am Telefon. »Natürlich mache ich mir so meine Gedanken, aber vielleicht ist es ja auch alles halb so schlimm. Vielleicht braucht sie einfach etwas Zeit, um mit all dem fertig zu werden …«
Zeit! Jessica Mahler hätte am liebsten laut losgelacht. Als ob es um irgendeinen pubertären Liebeskummer ginge!
Zeit wird dein Problem nicht lösen, pflichtete die Stimme in ihrem Kopf ihr bei.
Also tu gefälligst was!
Handle!
3
»Falls Frau Hellers Annahme stimmt und unser Hintermann wirklich konkrete eigene Ziele verfolgt hat, müsste er tatsächlich bereits an der Planung dieses Irrsinns beteiligt gewesen sein«, ergriff Verhoeven das Wort, nachdem sich alle wieder ein wenig beruhigt hatten. »Und zwar maßgeblich
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