Querschläger
Ganz so wie früher als Kind. Jessica Mahler nickte vor sich hin, ohne die Augen zu öffnen. Zu dieser Art von Konfrontation mit der Welt, mit dem Hier und Jetzt, war sie einfach noch nicht bereit. Dennoch spürte sie, wie allmählich etwas wie Bewusstsein in sie zurücksickerte. Wie ihre Umgebung begann, in Geräusche zu zerfallen. Empfindungen. Eindrücke. Eine ferne Autohupe. Ein leises Brummen wie von einem Flugzeug. Der Gummizug ihrer Schlafanzughose, der über ihrem Bauchnabel spannte. Kleinigkeiten, die sie trotz ihrer offenkundigen Belanglosigkeit überforderten. Zumindest kam es ihr im Augenblick noch so vor.
Um nicht weiter über das Loch nachdenken zu müssen, das die letzten Stunden in ihr Gedächtnis gerissen hatten, lenkte sie ihre Gedanken noch einmal in ihre Kinderzeit zurück. Damals hatte sie sich wie der Teufel gefürchtet, sobald es dunkel geworden war, und es hatte eine Menge Auseinandersetzungen über dieses Thema gegeben, weil ihre Mutter von jeher die Ansicht vertreten hatte, dass Dunkelheit etwas sei, an das man sich gewöhnen müsse. Früher oder später. Aber sie hatte nicht aufgegeben, bis das Licht im Flur schließlich über Nacht an geblieben war und ihre Mutter zusätzlich eine von diesen Notlampen gekauft hatte, die nur wenig Energie verbrauchten und trotzdem ein Gefühl von Schutz und Geborgenheit verströmten.
Die Erinnerung an eine Zeit, in der sich die Probleme des Lebens auf eine so einfache Art und Weise hatten lösen lassen, entlockte Jessica Mahler ein melancholisches Lächeln. Ihre Lampe hatte die Form eines Frosches gehabt, und vermutlich lag sie noch immer irgendwo in einer Schublade ihres Schreibtischs. Sie rollte sich auf die andere Seite und überlegte, ob sie danach suchen sollte.
Hinter ihren geschlossenen Lidern hing ein rötlicher Schein, was wahrscheinlich bedeutete, dass Tag war, was zu der Hupe passen würde, die sie gehört hatte. Idiotischerweise war das Erste, was sie dachte, nachdem ihr Verstand den Tag als gegeben hingenommen hatte, dass sie in die Schule musste. Und dass sie ihre Englischaufgaben nicht gemacht hatte. Dabei war Englisch sowieso schon eins von den Fächern, in denen sie eher schwach war. Im Geiste sah sie das leere Blatt vor sich, einen linierten Doppelbogen, in dessen oberste Zeile sie bereits die Aufgabe notiert hatte, die es zu erledigen galt: Give a short characterization of Algernon! Augenblicklich lasen sie Oscar Wilde. The Importance of Being Ernest. Und sie hatte kein Essay über diesen dämlichen Algernon geschrieben, weil … Ja, weil etwas dazwischengekommen war!
Etwas, das sie von allen Verpflichtungen entband.
Etwas, das ein Versäumnis relativierte, für das sie noch vorgestern eine schlechte Epochalnote kassiert hätte.
Jessica Mahler stöhnte und zwang sich, die Augen zu öffnen. Vor dem Fenster, das in den Garten hinausging, war tatsächlich Tag. Mittag sogar, wie ihr ein Blick auf die Uhr neben ihrem Bett verriet. Und das wiederum hieß, dass die Zeit der Ausflüchte unwiderruflich vorbei war. Dass es nur eine Frage von Minuten sein konnte, bis ihre Mutter auftauchte, um sie zu fragen, was denn nun eigentlich mit dem Spiegel im Badezimmer geschehen sei. Wie es ihr gehe. Was sie empfinde, wenn sie … Sie blinzelte in das kleine Stück Himmel, das sie von ihrem Bett aus sehen konnte, und versuchte, ihrem Gedächtnis vielleicht doch noch ein paar Erinnerungen zu entlocken. Wenigstens zu den letzten Stunden. Doch ihr wollte partout nichts einfallen.
Also stand sie auf und tappte auf das helle Viereck des Fensters zu, das gekippt war, ein weiteres Indiz dafür, dass ihre Mutter sie zu Bett gebracht hatte. Jessica Mahler sog die frische, erdige Regenluft ein, die durch den Spalt drang, und registrierte einen entfernten Schmerz in ihrem Körper. Und mit ein paar Sekunden Verzögerung gelang es ihr auch, diesem Schmerz einen Ort zuzuordnen. Ihre Augen wanderten hinunter zu den Innenflächen ihrer Hände, die übersät waren mit kleinen Verletzungen, Kratzern, allesamt ganz und gar oberflächlich. Lediglich am Zeigefinger der rechten Hand befand sich ein Schnitt, der ein bisschen tiefer aussah. Tief genug, um geblutet zu haben. Jessica Mahler schüttelte den Kopf, weil sie den Bildern misstraute, die ihr Gedächtnis ihr als Erklärung für diese Wunden an ihren Händen offerierte. Hatte sie tatsächlich versucht, aus zerborstenem Spiegelglas einen Schneemann zu bauen?
Sie schrie leise auf, als urplötzlich neue Bilder über
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