Querschläger
das dort auf den Gängen geherrscht hat, so genau darauf geachtet haben, wer da hinter ihnen her ballert.«
»Nehmen wir mal an, dass unser zweiter Mann sich tatsächlich unter die Flüchtenden gemischt hat«, führte Winnie Heller den Gedankengang des altgedienten Kollegen weiter. »Angenommen, er hätte vielleicht sogar jemanden getragen, der verletzt, oder noch besser: bewusstlos gewesen ist …«
»… dann hätte er feuern können, ohne groß aufzufallen«, schloss Bredeney, indem er die junge Kollegin mit einem väterlichen Lächeln bedachte.
Hinnrichs’ Miene hingegen ließ keinerlei Zweifel daran, was er von den Gedankenspielereien seiner Beamten hielt. »Das glauben Sie doch nicht im Ernst, oder?«
»Es wäre zumindest ein erhebliches Risiko«, sagte Verhoeven. Nichtsdestotrotz hatte er das Gefühl, dass seine Kollegen richtig liegen könnten. Er blickte in seine Kaffeetasse hinunter und versuchte sich vorzustellen, wie die flüchtenden Schüler des Clemens-Brentano-Gymnasiums die Situation wahrgenommen hatten. Er wusste, dass viele der Kinder einfach losgerannt waren, zunächst auf den Flur, von dort ins Treppenhaus und dann weiter auf den Schulhof, ins Freie. Andere hatten sich in ihren Klassenzimmern verbarrikadiert oder in irgendwelchen Toiletten versteckt. Wieder andere hatten versucht, dem Massaker zu entkommen, indem sie sich auf den Boden geworfen und tot gestellt hatten. Manche von ihnen so lange, bis das SEK angerückt war. Verhoeven bewegte seinen rechten Fuß, der einzuschlafen drohte. Es fühlte sich an, als ob tausend Nadeln gleichzeitig in die Sohle gestochen würden. Zunächst wird niemand etwas wissen, dachte er. Erst die Albträume, die auf ein solches Erlebnis unweigerlich folgen, erst eine vorsichtige und behutsame Aufarbeitung des Geschehenen in den nächsten Wochen und Monaten würde vielleicht die eine oder andere Erinnerung zurückbringen. Die Frage war nur, ob sie so viel Zeit hatten.
Auf der anderen Seite des Tisches schob Stefan Werneuchen geräuschvoll seine Tasse von sich. Er war der Einzige in der Runde, der Tee trank, und die Tasse war seit Stunden leer, weil er es einfach nicht über sich brachte, aufzustehen und heißes Wasser zu holen. »Wenn unser Mann sich tatsächlich unter die Flüchtenden gemischt hätte«, griff er die Spekulationen seiner Kollegen noch einmal auf, »müssten wir dann nicht zwangsläufig nach einem anderen Schüler suchen?«
»Nach einem anderen Schüler oder einem Lehrer«, nickte Verhoeven.
Winnie Heller blickte ihn über den Tisch hinweg an. »Theoretisch kämen auch noch Personen in Betracht, die auf irgendeine andere Weise mit dieser Schule zu tun haben«, sagte sie. »Lieferanten für den Schulkiosk, zum Beispiel. Oder Handwerker, die zum fraglichen Zeitpunkt dort zu tun hatten.«
Werneuchen zückte seinen Kugelschreiber. »Ich überprüfe das.«
»Aber wie wahrscheinlich ist es, dass ein Unbekannter inmitten dieses Chaos überhaupt aufgefallen wäre?«, brachte Bredeney mit der Sturheit einer langen und geradlinigen Beamtenkarriere einmal mehr sein Lieblingsargument auf den Tisch.
»Unterschätzen Sie nicht die Wahrnehmungsfähigkeit der Menschen«, mahnte Hinnrichs mit einem entnervten Augenrollen. »Da waren Hunderte von Personen auf den Beinen. Und irgendwer sieht immer was, auch wenn ihm die Bedeutung dessen, was er gesehen hat, vielleicht gar nicht bewusst ist.«
»Genau das könnte zu unserem Hauptproblem werden«, sagte Verhoeven, indem er sich seine Überlegungen von eben ins Gedächtnis rief. Die Zeit, die sie nicht hatten.
»Du meinst, weil uns diese ganze Flut von Aussagen und Beobachtungen schlicht und einfach überfordert?«, fragte Werneuchen.
»Das ganz sicher«, sagte Verhoeven. »Außerdem dürfte es ziemlich schwierig werden, die richtigen Fragen zu stellen, ohne eine neuerliche Panik auszulösen.«
»Und damit die gesamten Ermittlungen zu gefährden«, fauchte Hinnrichs mit einer Miene, die deutlich zum Ausdruck brachte, dass er in puncto Diskretion nicht mit sich reden ließ. Und darüber hinaus auch nicht gewillt war, sich irgendwelche moralische Vorhaltungen in Bezug auf seine Informationspolitik anzuhören.
»Trotzdem sollten wir den Kollegen, die die Befragungen durchführen, noch einmal explizit einschärfen, sich nach Fremden zu erkundigen«, beharrte Verhoeven.
Doch Hinnrichs ignorierte ihn und griff stattdessen nach einer der Thermoskannen. Das weichmacherfreie Mineralwasser hatte er bereits vor
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