Querschläger
beteiligt.«
»Warum nicht?«, fragte Bredeney, indem er sein Brillenkettchen zwischen den Fingern hin und her drehte. »Man weiß doch, dass es bei vielen Amokläufen der jüngeren Vergangenheit Mitwisser gegeben hat, die bereits lange vor der eigentlichen Tat über entsprechende Pläne der späteren Amokschützen informiert waren.«
»Ja, Mitwisser!«, höhnte Hinnrichs. »Aber wenn Frau Hellers Theorie zuträfe, sprechen wir hier doch wohl eher von einem Initiator. Einem Strategen. Um erfolgreich zu sein, hätte er alles bis ins kleinste Detail planen müssen. Und selbst dann wären da Hunderte, ach was sage ich, Tausende Unwägbarkeiten gewesen. Ganz abgesehen davon, dass er sich absolut sicher sein musste, was seinen Einfluss auf Hrubesch angeht.«
Winnie Hellers Finger spielten mit dem Henkel ihrer Kaffeetasse. »Nichtsdestotrotz ist es eine Möglichkeit«, beharrte sie.
Der Leiter des KK11 schüttelte den Kopf. »Die Chance, dass der Plan dieses Mitwissers – so es ihn denn gegeben hat – aufgeht, wäre kaum größer als eins zu …« Er stutzte und überlegte eine Weile, aber letztlich wagte er keine Prognose. »Wie auch immer«, sagte er stattdessen, »unser Mann konnte nicht damit rechnen, dass er sein Ziel, was es auch gewesen sein mag, auf diese Weise erreicht.«
»Aber dieser Kerl hat nachweislich drei, vielleicht sogar vier Menschen getötet«, widersprach Winnie Heller dem Leiter des KK11 freundlich, aber bestimmt. »Ließe das nicht zumindest vermuten, dass er entgegen aller Wahrscheinlichkeiten am Ende doch erfolgreich war?«
Verhoeven wandte den Kopf. »Aber wer sagt uns, dass das richtige Opfer dabei ist?«, wandte er ein. »Das, auf das es unserem Mann ankam?«
Winnie Heller antwortete mit einer Gegenfrage. »Würde er denn nicht mit dem richtigen Opfer beginnen?«
»Anzunehmen«, räumte Verhoeven ein.
»Herrgott noch mal«, polterte Hinnrichs, dem die Sache allmählich zu bunt wurde. »So, wie Sie über diesen Kerl sprechen, könnte man annehmen, dass Sie schon alles über ihn wissen. Aber Sie wissen gar nichts. Für den Augenblick ist dieser Mann nichts als ein Schatten. Eine Möglichkeit von vielen.«
»Nichts anderes habe ich behauptet«, murmelte Winnie Heller mit einem Anflug von Trotz in der Stimme.
»Bitte?«, keifte Hinnrichs zurück.
Sie hob abwehrend die Hände. »Nichts.«
Verhoevens Blick hing unterdessen an einer der Porträtaufnahmen an der Wand fest. Werneuchen hatte kleine Schilder mit den Namen der Opfer geschrieben und diese unter die betreffenden Fotos geklebt. Daher wusste er, dass es Inge Naumanns Augen waren, die ihm aus der sorgfältig ausgeleuchteten Studioaufnahme entgegenblickten. Sie hatte Englisch und Deutsch unterrichtet und wäre in wenigen Tagen nach Brighton gereist, um dort eine Gruppe von Austauschschülern in Empfang zu nehmen. Wenn Nikolas Hrubesch ihr nicht eine Kugel in den Kopf geschossen hätte, setzte Verhoeven in Gedanken hinzu, und mit einem Mal fühlte er einen bohrenden Schmerz in seinem Magen. »Trotz aller Vorbehalte würde die Variante, die uns Frau Heller eben aufgezeigt hat, wahrscheinlich die bei weitem größte Chance bieten, diesen ominösen Hintermann zu kriegen«, befand er, als er spürte, dass sich etwas wie Resignation unter den Kollegen breitgemacht hatte.
Ihm gegenüber setzte Bredeney seine Kaffeetasse ab. »Weil sie voraussetzt, dass der zweite Täter ein handfestes Motiv hat?«
Verhoeven antwortete nicht. Je länger er über diese Sache nachdachte, desto mehr hatte er den Eindruck, dass sie sich verrannten. Dass sie sich auf jemanden einschossen, den es vielleicht gar nicht gab. Zumindest nicht so, wie sie ihn hier zeichneten. Er sah wieder Inge Naumanns freundliches Lächeln an und dachte, dass eine Tragödie wie diese unmöglich von etwas anderem als etwas Hochemotionalem motiviert sein konnte. Von Hass, von Enttäuschung oder blinder, grenzenloser Wut auf die Welt und all ihre Ungerechtigkeiten. Andererseits schien vieles von dem, was sich am Clemens-Brentano-Gymnasium ereignet hatte, nicht in das Bild eines gewöhnlichen Amoklaufs zu passen. Nikolas Hrubeschs Motiv war nicht Wut gewesen, zumindest nicht Wut allein. Er hatte seine wahnwitzige Tat überleben wollen, um sich an den Folgen zu weiden. Um vielleicht gar über Jahre hinweg zu verfolgen, wie die Familien seiner Opfer zerbrachen an der Last, die er ihnen auferlegt hatte. Wie auch immer geartete Allmachtsphantasien, dachte Verhoeven, das ist der eine
Weitere Kostenlose Bücher