Querschläger
Stunden aufgegeben. In Zeiten wie diesen zählten andere Dinge. Koffein. Wachheit. Ideen. »Verraten Sie mir lieber etwas über das Motiv unseres Trittbrettfahrers«, sagte er, indem er sich die Dose mit dem Süßstoff von der Mitte des Tisches angelte. »Was, glauben Sie, wollte unser zweiter Schütze in dieser Schule erreichen?«
Verhoeven dachte an etwas, das Winnie Heller gesagt hatte, als sie gemeinsam mit Dr. Gutzkow über dieses Thema diskutiert hatten. Ruhm wie in Hrubeschs Fall können wir als Motiv wohl ausschließen. Und wenn unser zweiter Mann als großer Retter in die Geschichte eingehen wollte, hätte er sich wohl kaum solche Mühe gegeben, den Mord an Hrubesch wie einen Selbstmord aussehen zu lassen. Er sah zu ihr hinüber und bemerkte, dass sie sich eben anschickte, etwas zu sagen.
»Vielleicht …«
Hinnrichs’ Kopf ruckte herum. »Ja?«
»Ach, ich weiß nicht«, murmelte sie, vielleicht, weil ihr ihre Idee jetzt, da sie sie formulieren sollte, irgendwie unausgegoren vorkam. »Aber mal angenommen, diesem mysteriösen Hintermann wäre es in Wirklichkeit gar nicht um die Beteiligung an einem Blutbad, sondern um ein ganz bestimmtes Opfer gegangen …«
Der Leiter des KK11 starrte sie über seine randlose Brille hinweg an. »Sie meinen, so wie es Hrubesch offenbar vorrangig um diese Lehrerin ging?« Sein Blick suchte die Unterlagen, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Fotos, Fakten, Namen. Seine Form von Sicherheit. »Diese Frau Ringstorff?«
»So ähnlich«, nickte Winnie Heller, sichtlich erleichtert, dass der Leiter des KK11 sie nicht sofort wieder zum Schweigen brachte. »Immerhin sind wir uns doch wohl einig, dass diese Tat von langer Hand geplant und vorbereitet wurde, nicht wahr?«
Die Kollegen gaben zustimmende Laute von sich.
»Weiter können wir festhalten, dass der Mann, den wir suchen, in die Planungen einbezogen gewesen sein muss«, fuhr Winnie Heller ermutigt fort. »Er wusste, für welchen Tag und welchen Zeitpunkt Hrubesch seinen Amoklauf geplant hat und welche Waffen er dabei benutzen würde. Ebenso, wie er wusste, dass Nikolas Hrubesch Linkshänder war. Und …« Sie dachte einen Augenblick nach. »Ja, höchstwahrscheinlich kannte er auch die Route, auf der sich Hrubesch in der Schule bewegen wird.«
Wie von einem unsichtbaren Magneten angezogen, wanderten die Blicke der Beamten zum Plan des Clemens-Brentano-Gymnasiums hinüber, wo eine Spur aus roten Nadeln jener gelben, die Nikolas Hrubeschs Weg der Zerstörung markierte, auf unheimliche Weise zu folgen schien.
Allerdings begann die rote Spur nicht im Erdgeschoss des Altbaus wie die von Hrubesch, sondern erst in der dritten Etage, konstatierte Verhoeven, und er fragte sich, ob diesem Umstand eine tiefere Bedeutung zukommen mochte. Ob der Hintermann, den sie suchten, schon vor Nikolas Hrubesch dort oben im dritten Stock gewesen war, ob er dort gelauert hatte, um darauf zu warten, dass sein Komplize das Inferno in Gang setzte.
»Aber wieso?«, fragte Hinnrichs mitten in die Stille, die die Luft im Raum vibrieren ließ. »Warum wandelt jemand auf den Spuren eines Massenmörders und erschießt quasi im Vorbeigehen selbst ein paar Menschen, bevor er mir nichts, dir nichts wieder in der Versenkung verschwindet?«
»Na ja …« Winnie Heller räusperte sich. »Wie ich bereits sagte, könnte es doch möglich sein, dass unser Mann eine ganz bestimmte Person töten, dabei aber verhindern wollte, dass er mit der Tat in Verbindung gebracht wird, und …«
»Augenblick«, fiel Hinnrichs ihr nun doch ins Wort. »Wollen Sie etwa andeuten, jemand könnte einen Massenmord angezettelt oder sich doch zumindest irgendwie daran beteiligt haben, um eine ganz spezielle, am Ende vielleicht sogar persönlich motivierte Tat unter einem Berg von Leichen verschwinden zu lassen?«
Eine flammende Röte goss sich über Winnie Hellers Wangen, aber sie nickte tapfer vor sich hin. »Ja«, entgegnete sie. »Genau das wollte ich sagen.«
»Donnerlüttchen!«, rief Oskar Bredeney, der Rest seiner Worte ging im Stimmengewirr der Kollegen unter.
2
Jessica Mahler konnte beim besten Willen nicht sagen, wie sie in ihr Bett gekommen war. Irgendwann mitten in der Nacht war sie aus dem Schlaf geschreckt und hatte nach einem Moment der Orientierungslosigkeit die Türen ihres Kleiderschranks erkannt. Von irgendwo her war ein Licht auf das massive Kiefernholz gefallen, wahrscheinlich aus dem Flur vor ihrem Zimmer. Ihre Mutter musste eine Lampe brennen gelassen haben.
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