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Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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dennoch nicht hasste. Fair ging vor. Sie waren Brüder.
    So viel er auch an moralischen Dilemmata gegenüber Roger zu grübeln hatte, es war nichts im Vergleich mit dem Moment eine halbe Stunde später, als er, angetan mit Stiefeln, Perücke, Krawatte und Rock und ausgerüstet mit einer Sekundenzeiger-Uhr, die Roger irgendwie Hooke abgeschwatzt hatte, aus dem Haus trat und in die Kutsche stieg. Denn eine der Frauen darin war Tess Charter. Wumm.
    Als sie und die andere Frau damit fertig waren, über Daniels Gesichtsausdruck zu lachen, beugte sie sich vor und flocht ihre Finger zwischen die seinen. Sie war auf schockierende und alarmierende Weise lebendig – jedenfalls deutlich lebendiger, als er es war. Sie schaute ihm in die Augen und sagte mit ihrem französischen Akzent: »Wirklisch, Daniel, es iest die Rolle meinös Leböns – die Mätresse eines’errn zu verkörpörn, der zu rein – zu spiritüell iest, um die Gedankön des Fleischös zu denkön.« Dann ein gewöhnlicher Londoner Akzent: »Aber eigentlich sind mir die schwierigen Rollen ganz lieb. Dass ich sie spielen kann, trennt mich von Leuten wie Nell Gwyn.«
    »Was wohl den König von Nell Gwyn trennt?«, fragte die andere.
    »Zehn Zoll Schafsdarm mit einem Knoten vorne drin – wenn der König weiß, was gut für ihn ist!«, gab Tess zurück. Wumm.
    In dieser Art ging es weiter. Daniel wandte sich an Roger, der neben ihm saß: »Sir! Wie um alles in der Welt kommt Ihr darauf, ich wollte den Anschein erwecken, als hätte ich eine Mätresse?«
    »Wer hat denn etwas von Anschein gesagt?«, antwortete Roger, und als Daniel nicht lachte, reckte er sich und sagte: »Pah! Ohne Mätresse könntet Ihr ebenso wenig in Whitehall erscheinen wie ohne Degen bei einem Duell! Ich bitte Euch, Daniel! Kein Mensch wird Euch ernst nehmen! Man wird glauben, Ihr verbergt irgendwas!«
    »Das tut er auch – allerdings nicht allzu gekonnt«, sagte Tess und beäugte eine neu entstandene Ausbuchtung an Daniels Hose.
    »In Die holländische Metze habt Ihr mir gut gefallen«, machte Daniel einen schwachen Versuch.
    So ging es die London Wall entlang und westwärts, ho! – und jeder Versuch Daniels, etwas Ernsthaftes zu sagen, wurde von einer höfischen Witzelei unterlaufen – die zumeist so unanständig war, dass er sie so wenig verstand, wie Tess das Protokoll der Royal Society verstanden haben würde. Jedem Scherz folgte ausgelassenes weibliches Gelächter und dann ein radikaler und vollkommen unmotivierter Themenwechsel.
    Gerade als Daniel glaubte, etwas Ordnung in das Gespräch gebracht zu haben, ratterte die Kutsche mitten hinein in den Jahrmarkt von St. Bartholomew. Plötzlich tanzten vor den Fenstern Bären Gigues, und Hermaphroditen staksten auf Stelzen umher. Fromme Männer und wohlerzogene Damen pflegten den Blick von derlei Anblicken abzuwenden, doch Tess und die andere Frau (auch sie eine Komödiantin und allem Anschein nach Rogers echte und nicht nur vermeintliche Mätresse) hatten nicht die Absicht, sich irgendetwas entgehen zu lassen. Zehn Minuten später, als die Kutsche die Holborn hinabfuhr, plauderten sie noch immer über das, was sie gesehen hatten. Daniel beschloss, sich nach Roger zu richten, der, anstatt zu versuchen, mit den Damen zu reden, lediglich dasaß und ihnen zuschaute, im Gesicht das Grinsen eines Dorftrottels.
    Ecke Waterhouse Square hielten sie zwecks obligatorischer Bewunderung von Rogers neuem Grundstück und um hämische Kommentare über Raleighs Haus abzugeben: jenen bald in den Schatten gestellt werdenden Haufen, den Raleighs Architekt (so wurde gemutmaßt) während eines Anfalls von Blutfluss ausgeschissen hatte. Die Damen gaben Kommentare ähnlicher Art über die Kleidung der Witwe Mayflower Ham ab, die, ebenfalls auf dem Weg nach Whitehall, soeben die Treppe desselben herabgestiegen kam.
    Und weiter, vorbei an zahlreichen, nach St. Giles benannten Feldern, Kirchen, Plätzen et cetera und auf einem vollkommen überflüssigen Umweg entlang Piccadilly zu Comstock House, wo Roger die Kutsche halten ließ, damit er mehrere Minuten lang das Schauspiel genießen konnte, wie die silbernen Comstocks das Gebäude räumten, das ihnen seit den Rosenkriegen als Londoner Wohnsitz gedient hatte. Riesige Gemälde von Jagdszenen und Seeschlachten waren herausgeholt und an den schmiedeeisernen Zaun gelehnt worden. Zu ihren Füßen stand ein Durcheinander kleinerer Leinwände, zumeist Porträts, ihrer vergoldeten Rahmen beraubt, die zur Versteigerung

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