Quicksilver
ad libitum selbst erfinden musste.
Seine Rolle war, wie er ganz klar erkannte, die eines führenden Dissidenten, der zufällig auch noch ein bekannter Gelehrter, ein Fellow der Royal Society war. Bis vor kurzem hätte er diese Rolle nicht für schwierig gehalten, denn sie kam der Wahrheit sehr nahe. Doch was immer er einmal an Illusionen über ein Dasein als Gottesmann gehegt haben mochte, sie waren mit Drake gestorben und von Tess eingeäschert worden. Die Vorstellung, ein Naturphilosoph zu sein, gefiel ihm sehr, aber das würde einfach nicht funktionieren, wenn er mit Isaac, Leibniz und Hooke konkurrieren musste. Und deshalb erschien ihm die Rolle, die Roger Comstock für ihn geschrieben hatte, allmählich in der Tat sehr anspruchsvoll. Vielleicht wäre es ihm, wie Tess, irgendwann auch lieber so.
So viel war ihm an jenem Morgen im Jahre 1673 deutlich geworden. Doch die Weiterungen hatte er damals so wenig ermessen können, wie Mayflower Ham den Kalkül begriffen haben würde. Er hätte unmöglich ahnen können, dass die neu begonnene Laufbahn als Schauspieler auf der Bühne Londons sich über die nächsten fünfundzwanzig Jahre erstrecken würde. Und selbst wenn er es vorausgesehen hätte, hätte er sich niemals vorstellen können, dass man ihn vierzig Jahre später für eine Zugabe zurückholen würde.
An Bord der Minerva, Cape Cod Bay, Massachusetts
NOVEMBER 1713
Blackbeard ist hinter ihm her! Schon bevor er das wusste, hat Daniel den Tag in panischer Furcht zugebracht – nun wäre es an der Zeit, vor Angst tot umzufallen. Aber er ist stattdessen ruhig. Das liegt zum Teil daran, dass der Arzt ihn nicht mehr mit der Nadel malträtiert, und dem gegenüber ist alles eine Verbesserung. Zum Teil liegt es daran, dass er während der Operation einiges an Blut verloren und einiges an Rum getrunken hat. Aber das sind mechanistische Erklärungen. Ungeachtet dessen, was er am Vorabend seiner Abreise aus Boston über den freien Willen et cetera zu Wait Still gesagt hat, ist er noch nicht bereit zu glauben, dass er vom Gleichgewicht seiner Säfte beherrscht wird. Nein, Daniel ist in besserer Stimmung (jedenfalls nachdem er ein, zwei Stunden geruht hat), weil die Dinge nun allmählich wieder sinnvoll erscheinen. Wenn auch nur gerade so. Schmerz macht ihm Angst, der Tod dagegen nicht sonderlich (er hat nie damit gerechnet, so lange zu leben!), aber Chaos und das Gefühl, die Welt verhalte sich nicht gemäß rationalen Gesetzen, versetzen ihn in den gleichen Zustand animalischen Schreckens wie einen Hund, der bei lebendigem Leibe seziert wird und nicht versteht, warum. Für ihn sind die rollenden Augen jener festgebundenen und mit einem Maulkorb versehenen Hunde seit jeher der Prüfstein für Angst.
»Schon so rasch wieder zu einem Spaziergang auf den Beinen, Herr Doktor?«
Dappa hat ihn offensichtlich an dem Geräusch erkannt, das seine Schuhe und sein Gehstock auf dem Quarterdeck machen – er hat das Perspektiv seit einer halben Stunde nicht vom Auge genommen.
»Was ist an diesem Schoner so faszinierend, Mr. Dappa? Abgesehen davon, dass er voller Mörder steckt.«
»Der Kapitän und ich haben einen Disput. Ich sage, es ist ein flachgängiger, leegieriger flämischer Piratenkiel. Van Hoek sieht Eigenheiten an seiner Takelung, die für das Gegenteil sprechen.«
» Kiel heißt Rumpf – flachgängig heißt, dass er wie ein Korken hüpft und wenig unter der Wasserlinie hat – was für Flamen und Piraten, so nehme ich an, gleichermaßen wünschenswert ist, da sie beide in seichte Buchten und Häfen hineinkommen müssen -«
»Bis jetzt höchstes Lob, Herr Doktor.«
» Leegierig, so vermute ich, heißt dann, dass der Wind ihn wegen dieser Kielschwäche gewöhnlich seitwärts übers Wasser schiebt, wenn er hart an demselben fährt – was er im Moment gerade tut . «
»Genau wie wir, Herr Doktor.«
»Die Minerva hat vermutlich den gleichen Defekt -«
Diese Verunglimpfung veranlasst Dappa endlich, das Perspektiv vom Auge zu nehmen. »Wie kommt Ihr denn darauf?«
»All diese in Amsterdam gebauten Schiffe sind zwangsläufig Flachboote, nicht wahr? Um ins Ijsselmeer einfahren zu können...«
»Die Minerva wurde an der Küste von Malabar gebaut.«
»Mr. Dappa!«
»Ich würde Euch niemals mit Scherzen beleidigen, Herr Doktor. Es stimmt. Ich war dabei.«
»Aber wie -«
»Es ist ein ungünstiger Zeitpunkt, um Euch die ganze Geschichte zu erzählen«, bemerkt Dappa. »Nur so viel sei gesagt: sie ist nicht leegierig.
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