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Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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Arbeitstisch hinüber, um nach Hinweisen zu suchen, und sein Blick fiel auf ein Blatt Papier, auf dem Isaac ein bemerkenswert gelungenes Porträt eines schlafenden jungen Menschen gezeichnet hatte. Einer engelsgleichen Schönheit. Daniel konnte nicht sagen, ob es ein Junge oder ein Mädchen sein sollte. Doch als er es ans Fenster trug und bei Tageslicht betrachtete, fiel ihm ein Detail am Haar über der Stirn auf. Es diente als kryptologischer Schlüssel, der die Botschaft enträtselte. Mit einem Mal erkannte er sich selbst auf dem Blatt. Nicht so, wie er wirklich war, sondern geläutert, verschönert, vervollkommnet, wie durch eine alchimistische Raffination – Schlacke und Bodensatz weggekratzt, sodass der strahlende Geist hervorscheinen konnte wie das philosophische Merkur. Es war eine Zeichnung von Daniel Waterhouse, wie er ausgesehen haben könnte, wenn er zum Friedensrichter gegangen wäre, Upnor beschuldigt hätte, selbst angeklagt worden wäre und einen Christus-ähnlichen Tod erlitten hätte.
    Daniel ging nach unten und fand Isaac irgendwann in der Kapelle, wo er vornübergekrümmt kniete und, von Schmerz gequält, verzweifelt um die Rettung seiner unsterblichen Seele betete. Daniel konnte nur Mitgefühl empfinden, obwohl er zu wenig von der Sünde und zu wenig von Isaac wusste, um zu erraten, wofür sein Freund Buße tat. Er setzte sich dazu und betete selbst ein wenig. Mit der Zeit schienen Qual und Furcht zu schwinden. Die Kapelle füllte sich. Ein Gottesdienst begann. Sie holten die Gebetbücher hervor und schlugen die Seite für den Pfingstsonntag auf. Der Priester intonierte: »Was wird von denen verlangt, die zum Abendmahl des Herrn kommen?« Sie antworteten: »Dass sie sich prüfen, ob sie ihre früheren Sünden bereuen, und standhaft geloben, ein neues Leben zu führen.« Daniel betrachtete Isaacs Gesicht, während er diesen Katechismus sprach, und sah darin dieselbe Inbrunst, die jedes Mal Drakes entstelltes Gesicht aufleuchten ließ, wenn er wirklich glaubte, auf etwas Entscheidendes gestoßen zu sein. Sie gingen beide zur Kommunion. Das ist das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünden der Welt.
    Daniel sah mit an, wie sich Isaac von einer gepeinigten Jammergestalt, die sich vor geistiger Qual buchstäblich wand, in einen frommen, geläuterten Heiligen verwandelte. Nachdem sie ihre früheren Sünden bereut und standhaft gelobt hatten, ein neues Leben zu führen, kehrten sie in ihre Kammer zurück. Isaac warf die Zeichnung ins Feuer, schlug sein Notizheft auf und begann zu schreiben. Oben auf eine leere Seite schrieb er Sünden, begangen vor Pfingstsonntag 1662 und begann dann, alles Böse aufzuführen, was er seiner Erinnerung nach je getan hatte, und zwar bis zurück in seine Kindheit: seinem Stiefvater den Tod gewünscht, einen Jungen in der Schule verprügelt und so weiter. Er schrieb den ganzen Tag bis in die Nacht hinein. Als er sich alles von der Seele geschrieben hatte, fing er eine neue Seite mit der Überschrift Seit Pfingstsonntag 1662 an, die er vorläufig leer ließ.
    Unterdessen wandte sich Daniel wieder seinem Euklid zu. Jeffreys erinnerte ihn immer wieder daran, dass es ihm nicht gelungen war, ein frommer Mann zu werden. Er tat dies deshalb, weil er glaubte, Daniel den Puritaner damit zu quälen. In Wirklichkeit hatte Daniel niemals Prediger werden wollen, außer insoweit, als er es seinem Vater recht machen wollte. Seit seiner Begegnung mit Wilkins wollte er nur noch Naturphilosoph werden. Dass er die moralische Prüfung nicht bestanden hatte, hatte ihm die Freiheit dazu verschafft, wenn auch um den hohen Preis des Selbstekels. Wenn die Naturphilosophie ihn in die ewige Verdammnis führte, konnte er es ohnehin nicht ändern, wie Drake, der an die Prädestination glaubte, als Erster bestätigen würde. Zwischen dem Pfingstsonntag 1662 und Daniels Eintreffen vor den Toren der Hölle mochte ein Zeitraum von Jahren oder gar Jahrzehnten liegen. Diese Zeit konnte er genauso gut mit etwas ausfüllen, was er wenigstens interessant fand.
    Einen Monat später, als Isaac gerade nicht im Zimmer war, schlug Daniel das Notizheft auf und blätterte zu der Seite mit der Überschrift Seit Pfingstsonntag 1662. Sie war immer noch leer.
    Zwei Monate später sah er erneut nach. Nichts.
    Damals nahm er an, dass Isaac das Ganze schlicht vergessen hatte. Vielleicht hatte er aber auch aufgehört zu sündigen! Jahre später begriff Daniel, dass keine dieser beiden Vermutungen zutraf. Isaac Newton hatte

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