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Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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seines Gegenübers kann er entnehmen, dass die Rolle des Stiefvaters wahrscheinlicher ist.
    Somit wäre dies der passende Zeitpunkt, das Thema zu wechseln und auf abstrakte technische Fragen zu sprechen zu kommen: »Es geht alles aus bestimmten Grundprinzipien hervor. Alles lässt sich messen. Alles gehorcht physikalischen Gesetzen. Auch unser Verstand. Mein Verstand, der die Entscheidung fällt, ist in seinem Vorgehen bereits festgelegt, wie eine Kugel, die eine Rinne hinabrollt.«
    »Onkel! Ihr bestreitet doch nicht etwa die Existenz von Seelen – einer höchsten Seele.«
    Darauf gibt Daniel keine Antwort.
    »Weder Newton noch Leibniz würden Euch beipflichten«, fährt Wait Still fort.
    »Sie fürchten sich davor, mir beizupflichten, weil sie bedeutende Männer sind und vernichtet werden würden, wenn sie es offen sagten. Mich zu vernichten macht sich niemand die Mühe.«
    »Können wir deine Verstandesmaschine nicht durch Argumente beeinflussen?«, fragt Faith, die zurückgekehrt ist und in der Tür steht.
    Am liebsten hätte Daniel gesagt, dass Wait Stills beste Argumente ungefähr so viel Einfluss haben wie Nasenpopel, die gegen die Planken eines Linienschiffs unter vollen Segeln geschleudert werden, aber er sieht keinen Grund, ausfallend zu werden – der ganze Sinn der Übung besteht darin, bei denen, die er in der Neuen Welt zurücklässt, in guter Erinnerung zu bleiben, und zwar aufgrund der Theorie, dass etwas Kleines, wenn die Sonne am Ostrand Amerikas aufgeht, einen langen Schatten nach Westen wirft. »Die Zukunft ist ebenso festgelegt wie die Vergangenheit«, sagt er, »und die Zukunft sieht so aus, dass ich binnen einer Stunde an Bord der Minerva gehen werde. Ihr könnt argumentieren, dass ich in Boston bleiben sollte, um meinen Sohn aufzuziehen. Natürlich täte ich nichts lieber. Ich hätte, so Gott will, das befriedigende Gefühl, ihn in den Jahren, die mir noch bleiben, aufwachsen zu sehen. Godfrey hätte einen leibhaftigen Vater mit vielen augenfälligen Schwächen und Fehlern. Für kurze Zeit hätte er, wie jeder Knabe vor seinem Vater, großen Respekt vor mir. Es wäre nicht von Dauer. Doch wenn ich auf der Minerva fortsegle, hat er anstelle eines leibhaftigen Vaters – einer festen, bekannten Größe – einen nur gedachten, der in seiner Vorstellung unendlich wandelbar ist. Ich kann fortgehen und mir Generationen noch ungeborener Waterhouses vorstellen, und Godfrey kann sich einen Heldenvater vorstellen, der besser ist, als ich es in Wirklichkeit je sein kann.«
    Wait Still Waterhouse, ein intelligenter, anständiger Mann, sieht in dieser Argumentation so viele Löcher, dass die Alternativen ihn lähmen. Faith, eine bessere Mutter denn Ehefrau, die einen besseren Sohn denn Ehemann hat, steckt mit einem kecken Kopfnicken ein weitläufiges Gebiet von Kompromissen ab. Daniel lüpft seinen Sohn von Mrs. Goose’ Schoß – Enoch besorgt eine Mietkutsche – sie begeben sich zum Hafen.
Sodann sah ich in meinem Traume, dass der Mann zu
laufen begann. Er hatte sich noch nicht weit von seiner
Türe entfernt, da hoben seine Frau und seine Kinder,
welche dies bemerkten, an, ihm nachzurufen, er möchte
zurückkehren: doch der Mann steckte sich die Finger in
die Ohren, lief weiter und rief dabei immerfort: »Leben,
Leben, ewiges Leben.« Er sah sich nicht um, sondern
floh mitten auf die Ebene hinaus.
John Bunyan, Die Pilgerreise
    Die Minerva hat bereits den Anker gelichtet und macht sich die Flut zunutze, um die Entfernung zwischen ihrem Kiel und bestimmten Hindernissen in der Nähe der Hafeneinfahrt zu vergrößern. Daniel soll in einem Lotsenboot zu ihr hinausgerudert werden. Godfrey, der noch halb schläft, küsst pflichtschuldig seinen alten Vater und erlebt dessen Abreise wie einen Traum – das ist gut, denn so kann er die Erinnerung später auf seine wechselnden Bedürfnisse zuschneiden – wie einen Anzug, der alle sechs Monate geändert wird, um einer wachsenden Gestalt zu passen. Wait Still steht an Faith’ Seite, und Daniel kommt unwillkürlich der Gedanke, dass die beiden ein hübsches Paar abgeben. Enoch, der Familienzerstörer, hält sich schuldbewusst abseits, am Ende des Kais, und sein Silberhaar leuchtet im Licht des vollen Mondes wie weißes Feuer.
    Ein Dutzend Sklaven legen sich mächtig in die Riemen, sodass Daniel gezwungen ist, sich hinzusetzen, damit das Boot ihm nicht unter den Füßen hervorschießt und ihn zappelnd im Hafenbecken zurücklässt. Eigentlich setzt er sich

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