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Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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aufgehört, sich selbst der Sünde für fähig zu halten.
    Ein solches Urteil wäre jedem gegenüber hart gewesen – zumal da geschrieben stand: Richte nicht, auf dass du selbst nicht gerichtet werdest. Die Kehrseite aber war, dass man, wenn man es mit einem Mann wie Isaac Newton, dem vorschnellsten und grausamsten Richter, der jemals lebte, zu tun hatte, selbst sehr sicher und rasch urteilen musste.

Boston, Massachusetts Bay Colony
    12. OKTOBER 1713
Doch feiner noch gesittet saßen welche...
Abseits auf einem Berge unter sich
In höheren Gedanken und ergingen
Sich in erhebenden Erörterungen,
Was Vorsehung und was Vorausbestimmung,
Was Wille, Schicksal …
Milton, Das verlorene Paradies
    Wie ein guter Kartesianer, der alles anhand eines festen Punktes misst, behält Daniel Waterhouse, während er darüber nachdenkt, ob er nach England zurückkehren soll, durch einen Türspalt hindurch seinen Sohn im Auge: Godfrey William, den festen Pflock, den Daniel nach jahrzehntelangen Irrfahrten in den Boden getrieben hat. An einem beliebigen Ort auf einer Ebene ohne besondere Merkmale, wie mancher behaupten würde, mittlerweile aber Ausgangspunkt aller seiner Überlegungen. Nach Sir Isaac ist alle Materie eine Art andauerndes Wunder, und was die Planeten auf ihrer Umlaufbahn und die Atome an ihrem Platz festhält, ist der immanente Wille Gottes; wenn Daniel seinen Sohn anblickt, kann er kaum etwas anderes glauben. Der Junge ist eine gespannte Feder, das Potenzial für Generationen von amerikanischen Waterhouses, obgleich es ebenso gut möglich ist, dass er sich morgen ein Fieber holt und stirbt.
    In den meisten anderen Häusern Bostons würde eine Sklavin sich um den Jungen kümmern, sodass die Eltern sich mit ihrem Besucher unterhalten könnten. Daniel Waterhouse besitzt keine Sklaven. Dafür gibt es mehrere Gründe, einige davon sogar altruistischer Natur. Deshalb sitzt der kleine Godfrey nicht auf dem Schoß irgendeiner angolanischen Negerin, sondern auf dem einer Nachbarin: der schwachsinnigen, aber harmlosen Mrs. Goose, die gelegentlich zu ihnen nach Hause kommt, um das Einzige zu tun, worauf sie sich offenbar versteht: Kinder zu unterhalten, indem sie alle möglichen Unsinnsgeschichten und Knittelverse von sich gibt, die sie aufgeschnappt oder selbst erfunden hat. Unterdessen ist Enoch fortgegangen, um mit Kapitän van Hoek von der Minerva eine Vereinbarung zu treffen. So haben Daniel, Faith und der junge Rev. Wait Still Waterhouse 1 Gelegenheit, darüber zu sprechen, wie am besten auf die überraschende Einladung der Prinzession Caroline von Ansbach zu reagieren sei. Viele Worte werden gewechselt, aber sie machen auf Daniel ebenso wenig Eindruck wie Mrs. Goose’ zusammenhanglose Geschichten von Essbesteck, das über Himmelskörper springt, und liederlichen Hexen, die in abgelegter Fußbekleidung hausen.
    Wait Still Waterhouse sagt so etwas wie: »Ihr seid zwar schon siebenundsechzig, aber bei guter Gesundheit – viele haben noch viel länger gelebt.«
    »Wenn du große Menschenmengen meidest, gut schläfst, dich vernünftig ernährst -«, sagt Faith.
    » Lon-don Bridge is fal-ling down, fal-ling down, fal-ling down ...«, singt Mrs. Goose.
    »Noch nie ist mir mein Verstand so sehr wie eine Anordnung von Kurbeln und Zahnrädern vorgekommen«, sagt Daniel. »Ich habe mich schon vor einiger Zeit entschieden, was ich tun werde.«
    »Aber man hat es schon erlebt, dass Menschen es sich anders überlegen -«, sagt der Reverend.
    »Darf ich aus Euren Worten schließen, dass Ihr ein Vertreter des freien Willens seid?«, fragt Daniel. »Dass ein Waterhouse sich dazu versteht, bestürzt mich wirklich. Was lehrt man Euch heutzutage eigentlich in Harvard? Ist Euch nicht klar, dass diese Kolonie von Menschen gegründet wurde, die vor jenen flohen, die der Lehre vom freien Willen anhingen?«
    »Ich glaube nicht, dass die Frage des freien Willens wirklich so viel mit der Gründung dieser Kolonie zu tun hatte. Es handelte sich eher um ein Aufbegehren gegen die gesamte Vorstellung einer etablierten Kirche – sei sie papistisch oder anglikanisch. Zwar haben viele jener Unabhängigen – darunter auch Euer Vorfahr John Waterhouse – ihre Lehre von den Calvinisten in Genf übernommen und die von den Papisten und den Anglikanern so sehr in Ehren gehaltene Vorstellung vom freien Willen verachtet. Aber das allein hätte nicht ausgereicht, sie ins Exil zu treiben.«
    »Ich übernehme sie nicht von den Calvinisten, sondern von der

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