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Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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der Herzog von York – oder vielmehr der König von England – betete mit gefalteten Händen.
    Der Earl von Feversham kam aus dem Zimmer gewankt und stützte sich am Türpfosten ab. Er wirkte weder froh noch traurig, sondern auf unbestimmte Weise verloren. Dieser Mann war jetzt Oberbefehlshaber des Heeres. Paul Barillon hatte einen Gesichtsausdruck, als lutsche er an einem Schokoladentrüffel, wolle aber nicht, dass jemand das merkte. Samuel Pepys, Roger Comstock und Daniel Waterhouse wechselten einen unbehaglichen Blick.
    »Mylord? Was gibt es Neues?«, sagte Pepys.
    »Wie? Ach so. Der König ist tot«, verkündete Feversham. Er schloss die Augen und lehnte einen Moment lang den Kopf an seinen erhobenen Arm, als wolle er ein kurzes Nickerchen halten.
    »Lang lebe...«, soufflierte ihm Pepys.
    Feversham wachte auf. »Lang lebe der König!«
    »Lang lebe der König!«, sagten alle.
    Pater Huddlestone beendete die letzte Ölung und wandte sich zur Tür. Roger Comstock wählte diesen Augenblick, um sich zu bekreuzigen.
    »Ich wusste gar nicht, dass Ihr katholisch seid, Mylord«, sagte Daniel.
    »Haltet den Mund, Daniel! Ihr wisst, dass ich ein Anhänger der Gewissensfreiheit bin – habe ich Euch etwa jemals wegen Eurer Religion zugesetzt?«, sagte der Marquis von Ravenscar.

Versailles
    SOMMER 1685
Im Augenblick ist der Markt gegen unser Geschlecht; und wenn eine junge Frau über Schönheit, Herkunft, Bildung, Intelligenz, Vernunft, Umgangsformen, Bescheidenheit, und all das im Übermaß, verfügt, jedoch kein Geld besitzt, ist sie ein Niemand und alles andere nützt ihr auch nichts; heutzutage spricht nur Geld für eine Frau; die Männer arbeiten sich nur selbst in die Hände.
Daniel Defoe, Moll Flanders
An M. le Comte d’Avaux
12. Juli 1685
Monseigneur, wie Ihr seht, habe ich diesen Brief nach Euren Anweisungen verschlüsselt, obwohl nur Ihr wisst, ob dies ihn vor den Augen holländischer Spione oder vor Euren Rivalen bei Hofe schützen soll. Ja, ich habe entdeckt, dass Ihr Rivalen habt.
Auf meiner Reise wurde ich von ein paar typisch ungehobelten Holländern abgefangen und misshandelt. Obwohl man es von ihrem Aussehen und ihrem Benehmen her nie gedacht hätte, hatten sie etwas mit dem Bruder des Königs von Frankreich gemein, nämlich eine Faszination für Damenunterwäsche: Sie haben mein Gepäck gründlich durchwühlt und um ein paar Pfund erleichtert.
Schande, Schande über Euch, Monseigneur, dass Ihr diese Briefe zwischen meinen Sachen verstecktet! Eine Zeit lang habe ich befürchtet, ich würde in eins dieser schrecklichen holländischen Arbeitshäuser gesteckt und den Rest meiner Tage damit verbringen, Bürgersteige zu schrubben und Strümpfe zu stricken. Doch aus den Fragen, die sie mir stellten, wurde bald deutlich, dass Eure französische Geheimschrift Ihnen ein völliges Rätsel war. Um das zu prüfen, antwortete ich ihnen, dass ich diese Briefe so gut lesen konnte wie sie ; und der mürrische Ausdruck in den Gesichtern derer, die mich verhörten, zeigte, dass ihre Unfähigkeit offen gelegt und zugleich meine Unschuld bewiesen war.
Ich werde Euch vergeben, Monseigneur, dass Ihr mir solch bange Momente beschertet, wenn Ihr mir vergebt, dass ich bis vor kurzem glaubte, Ihr wäret völlig verrückt, mich nach Versailles zu schicken. Denn wie sollte ein einfaches Mädchen wie ich einen Platz im vornehmsten und ruhmreichsten Palast der Welt finden?
Doch jetzt weiß ich Bescheid und verstehe Euch.
Hier macht eine Geschichte die Runde, von der Ihr gehört haben müsst. Die Heldin ist ein Mädchen, kaum besser als eine Sklavin – die Tochter eines zugrunde gerichteten kleinen Adligen, der auf den gesellschaftlichen Stand eines Landstreichers gesunken war. Aus Verzweiflung heiratete dieses verlorene Geschöpf einen verkümmerten und verkrüppelten Schriftsteller in Paris. Doch der Schriftsteller hatte einen Salon , und der zog gewisse Standespersonen an, die der langweiligen Gespräche bei Hofe allmählich überdrüssig geworden waren. Seine junge Frau lernte ein paar dieser adligen Besucher kennen. Nachdem er gestorben war und dieses Mädchen als mittellose Witwe zurückgelassen hatte, nahm sich eine gewisse Herzogin ihrer an, brachte sie hinaus nach Versailles und machte sie zur Gouvernante einiger ihrer unehelichen Kinder. Diese Herzogin war keine Geringere als die maîtresse déclarée des Königs selbst, und ihre Kinder waren königliche Bastarde. Man erzählt sich, dass König Ludwig XIV. im Gegensatz zur

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