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Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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Annahme, dass alles, was ich schreibe, von den Holländern entschlüsselt und gelesen wird, in eben dieser Geheimschrift. Euch dagegen schreibe ich, wie bestimmt schon deutlich wurde, in der Annahme, dass Eure Geheimschrift uns einen sicheren Kanal bietet.
Da Ihr die Wilkins’sche Geheimschrift benutzt, die fünf Klartextbuchstaben verwendet, um einen Buchstaben der eigentlichen Botschaft zu verschlüsseln, muss ich fünf Wörter Blödsinn schreiben, um ein Wort von Bedeutung zu verschlüsseln, und so dürft Ihr Euch darauf gefasst machen, in zukünftigen Briefen weitschweifige Beschreibungen von Kleidung, Etikette und anderen langweiligen Details zu finden .
Ich hoffe, ich erscheine nicht eingebildet, wenn ich annehme, dass Ihr vielleicht eine gewisse Neugier in Bezug auf meine Stellung bei Hofe hegt. Natürlich bin ich nichts, unsichtbar, nicht einmal ein Tintenfleck auf dem Rand des Zeremonienbuches. Dennoch ist es der Aufmerksamkeit der Adligen nicht entgangen, dass Ludwig XIV. die meisten seiner wichtigsten Minister (wie Colbert, der eine Eurer Rechenmaschinen gekauft hat!) aus der Mittelschicht rekrutierte und dass er (heimlich) eine Frau von niederem Stand geheiratet hat, weshalb es in gewisser Weise fein ist, im Gespräch mit einer Nichtadligen gesehen zu werden, falls sie klug oder nützlich ist.
Natürlich wollen Scharen junger Männer mit mir ins Bett gehen, darüber Einzelheiten wiederzugeben, wäre jedoch eintönig und geschmacklos .
Da M. le Comte de Béziers’ Schlupfloch im Südflügel so ungemütlich ist und das Wetter so schön war, habe ich mit meinen beiden Schützlingen, Beatrice und Louis, neun und sechs Jahre alt, täglich mehrstündige Spaziergänge gemacht. Versailles hat ausgedehnte Gärten und Parks, von denen die meisten verlassen sind, außer wenn der König auf Jagd oder spazieren geht, und dann wimmelt es dort von Höflingen. Noch vor kurzem waren sie auch mit gemeinem Volk gefüllt, das um der Sehenswürdigkeiten willen den ganzen Weg von Paris herkam, doch diese Leute drängten sich so dicht um den König und hinterließen ein solches Schlachtfeld um die Statuen und Wasserspiele, dass der König unlängst den Mob aus all seinen Gärten verbannte.
Wie Ihr wisst, haben alle wohlgeborene Damen die Angewohnheit, ihr Gesicht mit einer Maske zu bedecken, sobald sie sich ins Freie wagen, damit sie nicht von der Sonne gebräunt werden. Viele der feineren Herren halten es ebenso – Philippe, der Bruder des Königs, der allgemein mit Monsieur angeredet wird, trägt eine solche Maske, obwohl es ihn ärgert, dass sie sein Make-up verschmiert. An so warmen Tagen, wie wir sie vor kurzem hatten, ist das so unbequem, dass die Damen von Versailles und damit auch ihre Gesellschafterinnen, ihre Gefolge und Galane es einfach vorzogen, in ihren Häusern zu bleiben. Ich kann mit Beatrice und Louis im Schlepptau stundenlang durch den Park wandern und begegne nur wenigen anderen Leuten: zumeist Gärtnern, gelegentlich auch Liebenden auf dem Weg zu Verabredungen in verschwiegenen Wäldern oder Grotten.
Die Gärten sind mit langen schnurgeraden Wegen und Promenaden durchzogen, die, wenn man auf bestimmte Kreuzungen tritt, plötzlich den unerwarteten Anblick einer Fontäne, einer Skulpturengruppe oder des Schlosses selbst bieten. Ich lehre Beatrice und Louis derzeit Geometrie, indem ich sie Landkarten von dem Ort zeichnen lasse.
Falls diese Kinder auch nur den geringsten Anhaltspunkt für die Zukunft des Adels darstellen, ist Frankreich, wie wir es kennen, dem Untergang geweiht.
Gestern ging ich am Kanal, einem kreuzförmigen Gewässer im Westen des Châteaus, entlang; die Längsachse verläuft von Osten nach Westen und die kurze Querachse von Norden nach Süden, und da er ein einziges Gewässer ist, befindet sich seine Oberfläche überall auf demselben Niveau, was eine bekannte Eigenschaft von Wasser ist. Ich steckte eine Nadel in ein Ende eines Korkens, beschwerte das andere Ende (mit einem Korkenzieher, damit Ihr es genau wisst!) und setzte ihn in dem kreisförmigen Becken an der Schnittstelle dieser Kanäle ins Wasser, in der Hoffnung, die Nadel würde senkrecht nach oben zeigen – das war der Versuch (wie Ihr zweifelsohne bereits erkannt habt), Beatrice und Louis mit der Vorstellung von einer dritten räumlichen Dimension senkrecht zu den beiden anderen vertraut zu machen. Doch ach, der Kork schwamm nicht aufrecht. Er trieb ab, und ich musste mich flach auf den Bauch legen und mich übers Wasser

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