Quicksilver
erbärmlichen Kammern, Dachstuben und Keller gesehen, in denen die Höflinge hausen.
Gewisse Teile dieses Palastes und der größte Teil der Gärten stehen jedem offen, der anständig gekleidet ist. Das bedeutete zu Anfang, dass sie für mich verschlossen waren, denn Wilhelms Männer beraubten mich all meiner Kleider. Doch nachdem ich hier angekommen war und die Kunde von meinen Abenteuern sich auszubreiten begann, bekam ich abgelegte Kleider von Adligen, die entweder an meinem bedauernswerten Schicksal Anteil nahmen oder in ihren beengten Kleiderschränken Platz für die Mode des nächsten Jahres machen mussten. Mit etwas Näharbeit ist es mir gelungen, sie zu Kleidern umzuarbeiten, die zwar nicht unbedingt modern sind, mich aber zumindest nicht der Lächerlichkeit preisgeben, wenn ich den Sohn und die Tochter von M. le Comte de Béziers durch die Gärten begleite.
Diesen Ort mit Worten beschreiben zu wollen ist hoffnungslos. Ich glaube sogar, dass das beabsichtigt war, denn jeder, der ihn kennen lernen möchte, muss persönlich hierher kommen, und genauso will es der König. Es reicht wohl, wenn ich sage, dass jeder Tropfen Wasser, jedes Laub- und Blütenblatt, jeder Quadratzoll Wand, Fußboden und Decke die Handschrift des Menschen trägt; alle sind sie von überragenden Geistern durchdacht worden, nichts wurde dem Zufall überlassen. Der Ort ist von Absicht durchdrungen, und wo immer man hinschaut, starrt einem der Blick der Architekten – und in Verlängerung der Ludwigs – ins Auge. Ich vergleiche das mit Steinblöcken und Holzbalken, die in der Natur vorkommen und an den meisten Orten einfach gesammelt und ein wenig von Handwerkern bearbeitet werden. In Versailles wird man nichts Derartiges finden.
In Topkapi gab es überall prachtvolle Teppiche, Doktor, Teppiche, wie kein Christ sie je gesehen hat, und alle waren sie Faden für Faden, Knoten für Knoten, von Menschenhand gemacht. Und genauso ist Versailles. Gebäude aus unbehauenem Stein oder Holz sind für diesen Ort dasselbe wie ein Sack Mehl für eine Diamantenhalskette. Ein alltägliches Ereignis wie eine Unterhaltung oder eine Mahlzeit in aller Ausführlichkeit zu beschreiben, würde bedeuten, fünfzig Seiten der Beschreibung des Raums und seiner Möblierung zu widmen, fünfzig der Kleidung, dem Schmuck und den Perücken, die die Teilnehmer tragen, weitere fünfzig ihren Stammbäumen, noch einmal so viele der Erläuterung ihrer gegenwärtigen Positionen in den verschiedenen Hofintrigen und schließlich eine einzige Seite den tatsächlich gesprochenen Worten.
Unnötig zu sagen, dass das praktisch unmöglich ist; dennoch hoffe ich, dass Ihr Nachsicht mit mir übt, wenn ich mich hin und wieder in blumigen Beschreibungen ergehe. Ich weiß, Doktor, dass Ihr zwar Versailles und die Kostüme seiner Bewohner nicht gesehen habt, dafür aber grobe Nachahmungen davon an deutschen Höfen, und dass Ihr Euren unvergleichlichen Verstand benutzen könnt, um Euch vorzustellen, was ich sehe. Deshalb werde ich mich bemühen, der Versuchung zu widerstehen, jedes kleine Detail wiederzugeben. Und ich weiß, dass Ihr für Sophie Stammbäume erforscht und in Eurer Bibliothek über die Hilfsmittel verfügt, um die Herkunft eines jeden kleinen Adligen, den ich erwähne, herauszufinden. Auch da werde ich mich also zu beherrschen versuchen. Ich werde mich bemühen, Euch den derzeitigen Stand der Hofintrigen zu erläutern, da Ihr keine andere Möglichkeit habt, etwas darüber zu erfahren. Eines Abends vor zwei Monaten zum Beispiel wurde meinem Herrn, M. le Comte de Béziers, die Ehre zuteil, während des Zubettgeh-Rituals des Königs eine Kerze zu halten, und danach wurde er vierzehn Tage lang zu allen besten Gesellschaften eingeladen. In letzter Zeit dagegen ist sein Stern im Sinken begriffen, und sein Leben ist sehr ruhig verlaufen.
Falls Ihr dies lest, bedeutet das, Ihr habt den Schlüssel aus dem I Ging entdeckt. Wie es scheint, befindet sich die Kryptographie der Franzosen nicht auf derselben Stufe wie ihre Innenarchitektur; ihre diplomatische Geheimschrift ist von den Holländern entschlüsselt worden, doch da sie von einem beim König hoch angesehenen Höfling entwickelt wurde, wagt niemand etwas gegen sie zu sagen. Falls das, was über Colbert gesagt wird, stimmt, hätte er nie zugelassen, dass eine solche Situation entsteht; wie Ihr wisst, starb er jedoch vor zwei Jahren, und die Geheimschrift wurde seither nicht überarbeitet.An d’Avaux in Holland schreibe ich in der
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