Quicksilver
althergebrachten Sitte christlicher Königshäuser seine Bastarde nur eine kleine Stufe unterhalb des Dauphin und der übrigen Enfants de France ansiedelt. Das Protokoll sieht vor, dass die Gouvernante der Enfants de France eine Herzogin sein muss; also machte der König die Gouvernante seiner Bastarde zu einer Marquise. In den Jahren seither ist die maîtresse déclarée nach und nach in Ungnade gefallen, da sie fett und theatralisch geworden ist, und eine Zeit lang war es so, dass der König, wenn er ihr nachmittags um ein Uhr, gleich nach der Messe, einen Besuch abstattete, einfach durch ihre Wohnung ging, ohne stehen zu bleiben, und stattdessen die Witwe besuchte – die Marquise de Maintenon, wie sie mittlerweile hieß. Schließlich, Monseigneur, habe ich erfahren, was in Versailles jeder weiß, nämlich dass der König die Marquise de Maintenon vor kurzem heimlich geheiratet hat und dass sie in allem außer dem Namen die Königin von Frankreich ist.
Es ist ganz offenkundig, dass Ludwig die Mächtigen Frankreichs hier an der kurzen Leine hält und dass sie nichts zu tun haben, als zu spielen, wenn der König abwesend ist, und seine Worte und Taten nachzuäffen, wenn er da ist. Als Folge davon streift jeder Herzog, Graf und Marquis in Versailles durch Kinderzimmer und Grundschulen und sprengt, auf der Jagd nach mannbaren Gouvernanten, die Erziehung der Adligenkinder. Das habt Ihr ganz sicher gewusst, als Ihr für mich Vorkehrungen traft, als Gouvernante der Kinder von M. le Comte de Béziers zu arbeiten. Mich schaudert’s bei dem Gedanken, in was für einer schrecklichen Schuld dieser arme Witwer bei Euch gestanden haben muss, um sich auf ein solches Arrangement einzulassen! Genauso gut hättet Ihr mich in einem Bordell unterbringen können, Monseigneur, bei all den schmucken jungen Burschen, die um den Eingang der gräflichen Wohnung herumschleichen und mich durch die Gärten verfolgen, wenn ich meine angeblichen Pflichten erfülle – und nicht wegen irgendeiner angeborenen Attraktivität, die ich vielleicht besitze, sondern einzig und allein, weil es das ist, was der König getan hat.
Zum Glück hat der König es bisher nicht für angebracht gehalten, mich mit einem Adelstitel zu ehren, oder ich sollte nicht lange genug allein gelassen werden, um Euch Briefe zu schreiben. Ein paar von diesen Müßiggängern habe ich daran erinnert, dass Madame de Maintenon eine bekanntermaßen fromme Frau ist und dass der König (der jede Frau der Welt haben könnte und es zwei- oder dreimal die Woche mit verfügbaren Fräuleins treibt) sich wegen ihrer Intelligenz in sie verliebte. Das hält die meisten von ihnen in Schach.
Ich hoffe, meine Geschichte hat Euch ein paar Augenblicke der Ablenkung von Euren langweiligen Pflichten in Den Haag beschert, und Ihr werdet mir infolgedessen verzeihen, dass ich Euch nichts wirklich Wesentliches berichtet habe.
Eure gehorsame Dienerin
Eliza
P.S. M. le Comte de Béziers’ Finanzen befinden sich in einer komischen Unordnung: Im vergangenen Jahr gab er vierzehn Prozent seines Einkommens für Perücken aus und siebenunddreißig für Zinsen, hauptsächlich auf Spielschulden. Ist das typisch? Ich werde versuchen, ihm zu helfen. Ist es das, was Ihr von mir erwartet habt? Oder wolltet Ihr, dass er hilflos bleibt? Das ist leichter.
So düster meine Worte, sie verdunkeln
doch nicht die Wahrheiten, die darin funkeln.
John Bunyan, Die Pilgerreise
An Gottfried Wilhelm Leibniz
4. August 1685
Lieber Doktor Leibniz, bei jedem neuen Vorhaben ist mit der Anfangsschwierigkeit 58 zu rechnen, und mein Umzug nach Versailles hat da keine Ausnahme gemacht. Ich danke Gott, dass ich mehrere Jahre im Harem des Topkapi-Palastes in Konstantinopel gelebt habe und darin geübt bin, dem Sultan als Gefährtin zu dienen, denn nur das konnte mich auf Versailles vorbereiten. Im Gegensatz zu Versailles wuchs der Palast des Sultans nicht nach einem zusammenhängenden Plan und sieht von außen wie ein Dschungel aus Kuppeln und Minaretten aus. Von innen betrachtet sind jedoch beide Paläste Labyrinthe aus muffigen fensterlosen Räumen, die durch andere, als Unterteilung wirkende Räume entstanden sind. Natürlich ist das die Perspektive einer Maus; ebenso wenig wie ich je in den kuppelförmigen Pavillon eingeführt wurde, wo der Große Türke seine Sklavenmädchen entjungferte, durfte ich bisher den Salon Apollos betreten und den Sonnenkönig in seinem Glanz zu Gesicht bekommen. In beiden Palästen habe ich vor allem die
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