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Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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– d.h. also das, worüber Leibniz in letzter Zeit so nachdachte.
    Die Ausgabe, die er in Händen hielt, war vor einigen Monaten erschienen und enthielt einen Artikel von Leibniz über Mathematik. Daniel begann ihn zu überfliegen und stieß sofort auf eindeutig vertraute Begriffe – wie er sie seit’77 nicht mehr erblickt hatte -
    »Da soll mich doch...«, murmelte Daniel, »er hat es also endlich getan!«
    »Was getan?«, erkundigte sich Exaltation Gather, der Daniel gegenübersaß und eine große Kassette voller Geld in den Armen hielt.
    »Den Kalkül veröffentlicht!«
    »Und was, bitte schön, ist das, Bruder Daniel? Sofern es sich nicht um etwas handelt, was einem auf den Zähnen wächst.« Der Hort von Münzen auf Exaltation Gathers Schoß gab ein gedämpftes Klirren von sich, während die Kutsche auf ihrer Federung – eine dieser ärgerlich guten französischen Ideen – hin und her schaukelte.
    »Neue Mathematik, basierend auf der Analyse von Größen, die infinitesimal und unbeständig sind.«
    »Das hört sich aber sehr metaphysisch an«, sagte der Reverend Gather. Daniel blickte zu ihm auf. Nichts und niemand war jemals weniger metaphysisch gewesen als er. Daniel war in der Gesellschaft solcher Männer groß geworden und hatte eine Zeit lang tatsächlich gedacht, sie sähen normal aus. Doch mehrere in Londoner Kaffeehäusern, Theatern und königlichen Palästen verbrachte Jahre hatten seinen Geschmack unmerklich geändert. Wenn sein Blick nun auf einen Angehörigen einer puritanischen Sekte fiel, schauderte es ihn. Was genau der Effekt war, den die Puritaner anstrebten. Hätte der Rev. Gather mit Vornamen Exultation – Jauchzen und Flohlocken – geheißen, wäre seine Kleidung ganz und gar unangemessen gewesen. Aber er lautete Exaltation, und für diese Leute war Exaltation ein schweres Geschäft.
    Daniel hatte König James II. schließlich überzeugt, dass den Ansprüchen Seiner Majestät, sämtliche religiösen Dissidenten zu dulden, sehr viel mehr Überzeugungskraft zukäme, wenn er Cromwells Schädel von der Stange, auf der er während der ein Vierteljahrhundert währenden Herrschaft Charles’ II. aufgepflanzt gewesen war, herunternehmen und in das christliche Grab zum Rest von Cromwell zurücklegen ließe. Für Daniel und bestimmte andere war ein Schädel auf einer Stange ein auffälliger Gegenstand und die Bitte, ihn herunterzunehmen, vollkommen vernünftig. Aber Seine Majestät und jeder Höfling in Hörweite hatten ein verblüfftes Gesicht gemacht: Sie hatten vergessen, dass der Schädel da war. Er gehörte zur Londoner Stadtlandschaft, ähnlich wie der Vogeldreck auf der Fensterscheibe, der einem auch nie auffiel. Daniels Bitte, James’ darauf folgende Verfügung und die Herunternahme und Grablegung des Schädels hatten nur die Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt. An einem modernen Hof bedeutete Aufmerksamkeit grausame Geistreicheleien, und so war es seit kurzem Mode, umherziehende puritanische Geistliche mit »Oliver« anzusprechen, wobei der Witz darin bestand, dass viele von ihnen – ohne Perücke, hager, dürftig bekleidet – wie Schädel auf Stangen aussahen. Exaltation ähnelte so sehr einem Schädel auf einer Stange, dass Daniel regelrecht an sich halten musste, um den Mann nicht umzuwerfen und Erde auf ihn zu schaufeln.
    »Newton ist offenbar Eurer Meinung«, sagte Daniel, »oder aber er hat Angst, dass irgendein Jesuit das behaupten wird, was auf dasselbe hinausläuft.«
    »Man braucht kein Jesuit zu sein, um eitle Phantasien skeptisch zu beurteilen -«, begann Gather, sichtlich verärgert.
    »Es muss da etwas geben«, sagte Daniel. »Schaut zum Fenster hinaus, dort hinüber. Der Sumpf wird von Wasserläufen – einige natürlichen Ursprungs, andere von fleißigen Farmern angelegt – in zahllose kleine Parzellen aufgeteilt. Jedes Rechteck von Land ließe sich in zwei kleinere zerlegen – zieht einfach einen Stock durch den Schlamm, und das Wasser wird den Strich im Boden auffüllen, so wie der Äther die Leere zwischen Materieteilchen ausfüllt. Ist das schon metaphysisch?«
    »Aber nein, es ist ein gutes Bild, irdisch, konkret, wie etwas aus der Genfer Bibel. Habt Ihr in letzter Zeit einmal in die Genfer Bibel geschaut oder -«
    »Was passiert also, wenn wir weiter unterteilen?«, fragte Daniel. »Ist es dann immerzu dasselbe? Oder verhält es sich vielmehr so, dass irgendwann etwas passiert, dass wir an eine Stelle kommen, an der keine weitere Unterteilung mehr möglich ist und

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