Quicksilver
Angst. Die langweiligen Abschnitte verschafften Daniel etwas Muße, über den ziemlich sonderbaren Familienfluch nachzusinnen, unter dem er zu leben schien, nämlich die ausgeprägte Tendenz, beim Abgang englischer Könige anwesend zu sein. Den Kopf von Charles I. hatte er buchstäblich rollen sehen, er war dabei gewesen, als Charles II. von seinen Ärzten um die Ecke gebracht wurde, und nun das. Der nächste Souverän wäre gut beraten, wenn er dafür sorgte, dass Daniel von der Royal Society den Auftrag bekam, für den Rest seines Lebens Luftdruckmessungen auf Barbados durchzuführen.
Das letzte Stück seines Weges verlief in Sichtweite des Flusses, einer geschlängelten Konstellation von Schiffslaternen, die einen angenehmen Anblick bot. Im Gegensatz dazu war die flache Landschaft von Pylonen lodernden Feuers getüpfelt, die Daniel schon aus einer halben Meile Entfernung das Gesicht wärmten wie der erste, nicht zu beherrschende Anflug von Scham. Größtenteils waren es schlichte Freudenfeuer, für Engländer die einzig mögliche Art, Begeisterung zu zeigen. Doch in einer kleinen Stadt, durch die er ritt, wurde die katholische Kirche nicht nur niedergebrannt, sondern niedergerissen, die Ziegelsteine von Männern mit geschärften Brecheisen auseinander gestoßen – vom Feuerschein orange gefärbte Männer, keine Menschen, die er noch als Landsleute erkannte.
Der Fluss zog ihn an. Zunächst sagte er sich, das liege daran, dass das Gewässer kühl und heiter war. Schließlich in Greenwich angekommen, bog er von der Straße ab und ritt auf die holprige Wiese des Parks. Er konnte nicht das Geringste sehen, was seltsam war, da sich hier doch angeblich ein Observatorium befand. Aber er hielt eisern daran fest, sein Pferd den Weg gehen zu lassen, den es nicht gehen wollte – nämlich bergauf. Das hatte nicht wenig mit dem Versuch gemeinsam, ein großes und im Grunde wohlhabendes Land dazu zu bringen, dass es revoltierte.
Am Rande eines Vorsprungs in dieser kleinen Hügelkette mitten im Nirgendwo thronte ein Salzfässchen von einem Gebäude: ein Haus, das sonderbar aussah, wie ein Spukhaus. In dem Philosophen spukten. Sein Sockel – ein Quader, der als Wohnraum diente – war auf eine Weise, die den Blick aus dem Fenster verstellte, von Bäumen umgeben. Jeder andere Bewohner hätte sie gefällt. Aber Flamsteed hatte sie wachsen lassen; ihm waren sie gleich, denn er schlief den ganzen Tag, und nachts gingen seine Blicke nicht hinaus, sondern nach oben.
Daniel erreichte eine Stelle, wo er durch Lücken zwischen den Bäumen das Licht von London sehen konnte. Der strahlende Himmel wurde vom schwarzen X des sechzig Fuß messenden Refraktors zerteilt, dessen Mast von einem großen Schiff stammte. Während Daniel sich dem Hügelkamm näherte, schwenkte er instinktiv nach rechts ab, um Flamsteed auszuweichen, der eine geheimnisvolle Abstoßungskraft ausübte. Wahrscheinlich war er wach, aber wegen des Lichts am Himmel außerstande, Beobachtungen anzustellen, und deshalb gereizter als sonst, vielleicht auch verängstigt. Die Fenster seiner Wohnung hatten solide Holzläden, die er zur Sicherheit vorgelegt hatte. Er hatte sich in einem der winzigen Zimmer verkrochen, wahrscheinlich außerstande, irgendetwas außer dem Ticken diverser Uhren zu hören. Oben, in dem achteckigen Salzfass, befanden sich zwei von Hooke entworfene und von Tompion gebaute Uhren mit dreizehn Fuß langen Pendeln, die alle zwei Sekunden, also langsamer als der menschliche Herzschlag, tickten oder vielmehr klackten, ein hypnotischer Rhythmus, der überall im Gebäude spürbar war.
Daniel führte sein Pferd auf einer langsamen Traverse um die Hügelkuppe herum. Unten, entlang dem Flussufer, glitten langsam die Ziegelsteinruinen von Placentia, dem Tudor-Palast, in Sicht. Dann die neuen Steingebäude, die Charles II. dort zu errichten begonnen hatte. Dann die Themse: zuerst der Bogen von Greenwich, dann ein Blick flussaufwärts, geradewegs bis ins East End. Dann breitete sich plötzlich ganz London vor ihm aus. Das Licht der Stadt spiegelte sich in der wie geschrumpelten Wasseroberfläche des Flusses, unterbrochen nur von den Silhouetten der vor Anker liegenden Schiffe.Wenn er nicht vor langer Zeit mit eigenen Augen den Brand von London gesehen hätte, hätte er meinen können, die ganze Stadt stehe in Flammen.
Er war in die oberen Ausläufer eines kleinen Wäldchens aus Eichenund Apfelbäumen eingetreten, das sich an den steilsten Teil des Hügels
Weitere Kostenlose Bücher