Quicksilver
einen großen, brackigen Sumpf von mehreren Meilen Durchmesser, mit einer Küstenlinie, die so verwickelt war wie ein Gehirn, und voll gestopft mit Kriegs- und Handelsschiffen. Erstere drängten sich größtenteils wie die Schafe am anderen Ende zusammen, hinter der Kette, die unter dem Schutz der Kanonen von Upnor Castle quer über den Fluss gespannt war. Aus irgendeinem Grunde hatte James damit gerechnet, dass Wilhelm von Oraniens Flotte dort, an der denkbar ungünstigsten Stelle, angreifen würde. Stattdessen hatte der protestantische Wind die Holländer bis zur Bucht von Tor, Hunderte von Meilen weiter westlich – fast schon in Cornwall – getrieben. Seither war der Prinz stetig ostwärts marschiert. Englische Regimenter rückten vor und stellten sich ihm in den Weg, nur um sogleich überzulaufen und kehrtzumachen. Wenn Wilhelm noch nicht in London war, so würde er es bald sein.
Die Hafenbewohner verfielen bereits wieder in ein höchst übertriebenes Englischsein: Weibervolk kam auf die Schänke zugeeilt, die Röcke gerafft, um sie nicht mit Matsch zu beschmieren, sodass sie über das Watt glitten wie Heuballen auf der Rutsche. Sie brachten dem König Lebensmittel! Sie hassten ihn, und sie wünschten ihn zum Teufel. Aber das war schließlich kein Grund, ungastlich zu sein. Daniel hatte Gründe für sein Verweilen – er fand, er müsste hineingehen und dem König Lebewohl sagen. Und – dies ein praktischer Gesichtspunkt – er war sich ziemlich sicher, dass man ihn des Pferdediebstahls beschuldigen konnte, wenn er sein Reittier Richtung London lenkte.
Andererseits blieb ihm noch eine Stunde Dämmerlicht, und die Ebbe konnte die Zeit, die er brauchte, um die Mündung zu umgehen, den Fluss zu überqueren und auf die Landstraße nach London zu stoßen, um einige Stunden verkürzen. Er hatte das nachdrückliche Gefühl, dass dort wichtige Dinge geschahen; und was den König und seinen improvisierten Hof hier in Sheerness anging: Wenn es nicht einmal der örtliche Kneipenabschaum über sich brachte, ihn ernst zu nehmen, warum sollte es dann der Sekretär der Royal Society tun? Daniel wandte dem König von England die Kehrseite seines Pferdes zu, dann trieb er es vorwärts ins Licht.
Seit der Zeit der babylonischen Astronomen hatte dann und wann eine Sonnenfinsternis unheilvolle Schatten über das Land gesenkt. Doch England im Winter bot seiner langmütigen Bevölkerung zuweilen das gegenteilige Phänomen, dass nämlich nach wochenlang trübem, farblosem Himmel die Sonne, nachdem sie längst untergegangen schien, plötzlich unter den Wolken hervorbrach und die Landschaft in rosiges, orangefarbenes und grünes Licht, rein und klar wie Edelsteine, tauchte. Zwar Empiriker, fühlte sich Daniel dennoch berechtigt, der Erscheinung eine Bedeutung zuzuschreiben, als sie sich ihm zeigte. Alles vor ihm war klares Licht, als ritte er in Buntglas hinein. Hinter ihm (und er machte sich nur einmal die Mühe zurückzublicken) war der Himmel eine Leere von der Farbe eines Blutergusses, das Land ein langer Streifen Schlamm. Mitten in der Trostlosigkeit erhob sich die Schänke auf einer Garbe von Pfählen, die sich aneinander lehnten wie eine Gruppe Betrunkener. Ihre Bretterwände krallten ein wenig Licht aus dem Himmel, ihr einziges Fenster glomm wie ein Karfunkel. Es war eine groteske Himmelslandschaft von der Art, derentwegen Holländer jederzeit herüberkommen würden, um sie im Bild festzuhalten. Und recht besehen war ja nun auch ein Holländer herübergekommen und hielt sie fest.
Die meisten Reisenden würden Castle Upnor kaum zur Kenntnis nehmen. Es war nichts als ein Steinfort, das vor hundert Jahren von Elizabeth erbaut worden war, jedoch viel älter aussah – seine senkrechten Steinmauern zeigten bereits Verfallserscheinungen. Aber seit der Restauration war es nomineller Sitz von Louis Anglesey, dem Earl von Upnor und Besitzer der schönen Abigail Frome (jedenfalls vermutete Daniel, dass sie schön war). Als solches fand Daniel es schaurig; er kam sich vor wie ein kleiner Junge, der an einem Spukhaus vorbeireitet. Wenn er gekonnt hätte, hätte er einen weiten Bogen darum gemacht, aber die Fähre daneben war bei weitem die schnellste Möglichkeit, den Medway zu überqueren, und dies war nicht der passende Zeitpunkt, sich von abergläubischen Vorstellungen von seinem Weg abbringen zu lassen. Die Alternative wäre gewesen, am Ostufer ein paar Meilen flussaufwärts zur riesigen Marinewerft von Chatham zu reiten, wo
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