Quintessenzen
Berater, präzise Angst ein sehr guter. Leider machen die meisten es sich mit der Angst zu einfach. Deshalb erinnere dich an unsere nächtlichen Übungen, als du noch sehr klein warst und vor Angst nicht einschlafen konntest. Wir sind damals geduldig und Schritt für Schritt das »Wieso, wovor, worum?« durchgegangen und auf dem Weg zur Quelle der Angst wurden die Schatten reiter mit den Säbeln unter den Staubmänteln, die dort auf dem Hügel im windigen Mondgegenlicht deiner harrten – zu Bettlaken.
Unternehmer kennen dieses Gedankenspiel als Worst-Case-Szenario, vulgo »Schlimmstenfalls« – und genau dies hilft in den meisten Angstfällen: Präzisierung.
Wer beispielsweise an Flugangst leidet, hat keine Angst vor dem Flug. Und auch nicht davor, dass ihm der Tomatensaft in den Schritt kippt. Sondern Angst zu sterben. Das ist der Worst Case, und der hat’s ja tatsächlich in sich (außer für kernige Buddhisten). Wer sich also nicht von Statistiken beruhigen lässt, der steht zu seiner Angst – und fährt Bahn. Oder gar nicht weg.
Du hattest als Kind Angst vor Wasser. Genauer: dem Meer. Genauer: sehr viel Wasser. Genauer: Angst, in so viel Wasser zu ertrinken, also zu sterben. Das kommt nur Erwachsenen albern vor. Angst vor so viel Wasser ist verständlich. Präzisierung hilft und erlaubt dir angemessenes Verhalten, in diesem Fall: Planschen bis zu den Knien, höchstens (jedenfalls solange man noch kein »Seepferdchen« hat).
Prüfungsangst ist keine Angst vor der Prüfung. Sondern Angst vor den Folgen des Durchfallens: Zeit zu verlieren, den geplanten Job nicht antreten zu können, gesellschaftlich geächtet zu sein, in der Gosse zu enden und vermutlich zu verhungern, also zu sterben. Schon wieder. Beziehungsweise: Eben nicht, denn natürlich stirbst du nicht, wenn du eine Prüfung vergeigst. Prüfungsangst und verwandte Ängste (Singen vor Publikum etc.) sind daher leichter zu besiegen als Flug- und Wasserangst, denn der Worst Case ist in der Regel nicht der → Tod .
Du wirst erstaunt sein, für wie viel Verhalten Angst zuständig ist. Stell dir ein sechsjähriges Kind mit Lampenfieber vor, das – verständlicherweise – Angst hat, dass alle über seinen ersten selbst komponierten Song lachen. Was dann auch alle tun, weil der Song nasagenwirmal unterirdisch war. Meinst du, dieses Kind wird Komponist? Vermutlich nicht. Und der Schmerz über die Ablehnung wird sich – qua Kindheit, also mangels Erfahrung – anfühlen wie der Tod persönlich, jedenfalls fast. So wird unser gedachtes Kind in seiner Zukunft genau diesen Schmerz meiden wie der Teufel das Weihwasser. Und das für immer, denn während das Ereignis selbst in Vergessenheit gerät, bleibt das Gefühl der Vernichtung eingraviert in die Seele. Ich hatte Angst vor alles vernichtendem Kummer, die Angst war begründet. Das mach ich nie wieder. Basta.
Machte sich unser gedachtes Kind später, als Erwachsener, die Mühe der Präzisierung, wäre allerdings ungefähr dies die Folge: Die waren link zu mir. Die waren scheiße. Ich war zu klein, um das zu schnallen. Klar war mein Song mies, aber ich war ja auch erst sechs und konnte noch nicht mal Gitarre spielen. Heute kann ich’s und wenn mich wieder einer auslacht, dann braucht der offensichtlich ein Hörgerät. Und das ist höchstens bedauerlich für ihn, aber nicht für mich. Wo ist meine Bühne?
Wenn du deine Mitmenschen aufmerksam studierst, wirst du erstaunt sein, wie viele von ihnen vor lauter diffuser Ängste nicht leben, wie sie leben könnten. Sie haben Verhaltensweisen entwickelt, die immer Reaktionen sind – früh gelernte Reaktionen zur Vermeidung von Kummer, Verhaltensweisen, die sich einst bewährt haben, inzwischen jedoch längst nichts mehr taugen. Aber da die meisten Menschen sich die Mühe nicht machen, ihr eigenes Verhalten zu hinterfragen, ihre Ängste zu benennen und zu präzisieren, stehen sie vor dir wie paralysiert, mit einem Heidenhorror davor, den Monstern ins Gesicht zu sehen, deren Atem sie Tag und Nacht im Nacken spüren. Denn es kommt ihnen vor, als müssten sie in dem Moment sterben, in dem sie den Kopf drehen und sich diese Ängste genau ansehen.
Man möchte ihnen raten, sich ganz behutsam umzudrehen. Sich anzuschleichen an sich selbst. Aus dem Augenwinkel zu checken, ob da wirklich ein sieben Meter großer Oger direkt hinter ihnen steht, von dessen Lefzen schon der Sabber in ihre Kragen tropft. Oder ob’s doch nur der eigene Schweiß ist, im
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