Quintessenzen
belohnen, das am ersten Kindergartentag wegläuft, wird es ebenfalls etwas daraus lernen – sehr zum Leidwesen seiner Lehrer, Eltern und späteren Lebensgefährten.
Verhalten, das wir einmal für uns als richtig erkannt haben – im Sinne von lebenserhaltend – stellen wir fortan freiwillig nicht mehr infrage, denn es gibt permanent Fragen genug, die wir beantworten müssen. Dennoch rate ich dir, deine Grundeinstellung, deine Grundüberzeugungen immer dann vollständig infrage zu stellen und zu überprüfen, wenn deine äußeren Lebensumstände im Begriff sind, sich gravierend zu ändern. Jeder Umzug, jeder Ortswechsel, jeder neue Job, jede neue Beziehung bieten dir exzellente Bedingungen, dein Verhalten zu kalibrieren.
Erzähl dich um
Wir alle sind Autoren. Selbst wenn wir keine Romane schreiben. Sobald wir unsere Lebensgeschichte erzählen, ob anderen oder uns selbst, werden wir automatisch zu Autoren. Und je öfter wir anderen oder uns selbst die Story erzählen, desto sicherer und pointierter wird diese. Dabei halten wir uns unbewusst an die Regeln der Erzählkunst, denn wir alle lieben gut erzählte Geschichten. Eben solche mit Helden drin, strahlenden oder tragischen. Mit Widersachern. Mit Mentoren, Helfern. Mit Tätern und Opfern, mit Drama und – manchmal – Komik. Mit »Plot Points«, also den entscheidenden Momenten und Wendepunkten. So erzählen wir unsere eigene Geschichte. Nicht als Zen-Ansammlung von unzusammenhängenden, zufälligen Ereignissen, sondern so, dass sie irgendeinen Sinn ergibt ( → Der Sinn des Lebens) . Welchen, entscheiden wir selbst, durch Bewertung, Weglassung und Verstärkung. → Hauptdarsteller (in) in dieser Geschichte sind immer wir selbst, allen anderen Darstellern weisen wir ihren Platz zu und ihre Funktion.
Solange diese unsere Erzählung sich stimmig anfühlt oder anhört, vor allem in unseren eigenen Augen und Ohren, bedarf es keiner Neufassung. Bei jeder Form von Lebensunwohlsein oder latenter Unzufriedenheit sind wir allerdings gehalten, als Drehbuchautoren unseres eigenen Seins tätig zu werden – und die ganze Story versuchsweise dramatisch umzuschreiben. Nicht gleich vor Publikum, wohl aber im Stillen, für uns selbst. Bei diesem »Re-Write« erweist es sich als äußerst hilfreich, alles infrage zu stellen und neu anzulegen. Insbesondere die Motivation und Rolle der Hauptdarstellerin neu zu denken, aber auch die der Nebenfiguren.
Haben wir bislang eine Heldinnengeschichte erzählt, machen wir eine Opfergeschichte draus. War’s bislang eine Opfergeschichte, versuchen wir’s mal mit einer Heldengeschichte.
Die Nebenrollen ändern wir gleich mit, zwangläufig (denn da jetzt Spartakus eine Maus ist oder vice versa, verändert sich natürlich auch jede Randfigur). Täter werden Opfer, Opfer Täter. Aus Abneigung wird Zuneigung, vielleicht verkappt, verborgen. Motivieren wir die Nebendarsteller neu. Tiefer, bei Bedarf. Geben wir ihnen und ihrem Handeln mehr Gewicht (oder weniger). Machen wir aus Mentoren Egoisten, aus Karriereverhinderern Helfer, aus gütigen Müttern Egoistinnen und aus finsteren Vätern Altruisten. Oder andersrum. Machen wir aus verpassten Chancen glückliche Fügungen. Du wirst merken, dass sich das Meiste von selbst ergibt. Denn schon durch kleine Änderungen im Skript, in den Motiven deiner handelnden Personen, musst du alles neu und anders erzählen.
Gut möglich, dass einige dieser experimentellen Neufassungen sich völlig falsch anfühlen – diese sind umgehend zu verwerfen. Aber auch jedes erfolglose Gedankenexperiment stellt den bisherigen Entwurf deiner Lebensgeschichte erfolgreich auf die Probe und stärkt sie. Es kann indes auch sein, dass dir die neue Version viel schlüssiger erscheint als die alte, die du seit Jahren oder Jahrzehnten dir selbst erzählst. Was im ersten Moment erschreckend und erschütternd ist, weil man sich selbst ungern bei Fehlern ertappt, aber im zweiten Moment äußerst hilfreich. Und du wirst positiv überrascht sein, welche Möglichkeiten sich aus dieser neuen, stimmigeren Version ergeben – für dich, die Haupt darstellerin, für den ganzen weiteren Verlauf deiner Lebens inszenierung.
Denn hier liegt der entscheidende Unterschied zu all den anderen Geschichten, die wir uns und einander erzählen: In unserer sind wir mittendrin, sie ist noch nicht vorbei. Zwar steht fest, wie sie endet, nämlich nicht als romantische Komödie mit Hochzeitsglocken und Reisregen, sondern unweigerlich mit dem → Tod
Weitere Kostenlose Bücher