Quintessenzen
temperiert, andere kälter als gedacht und nicht ganz so strömungsarm, wie es vom Ufer aus wirkte. Du wirst aber auch Flüsse kennenlernen, die sich nach freundlichem Be ginn auf halbem Wege als tückisch entpuppen. Und vor allem darauf musst du vorbereitet sein, bevor du überhaupt schwim men gehst – weil du sonst wertvolle Zeit mitten im Strom verlierst und, mit etwas Pech, elend ertrinkst.
Die ersten Strudel und Strömungen in diesen besonderen Flüssen wirst du noch mit einem Achselzucken beantworten – niemand hat gesagt, es würde leicht werden, weiter geht’s, kraulen! Auf den nächsten hundert Metern wirst du vielleicht merken, dass die Strömung stark ist und dass du einige Kraft aufwenden musst, um deinen Kurs zu halten und dein Ziel nicht aus dem Auge zu verlieren, und genau dies ist der Augenblick, in dem du dir sehr rasch zwei wichtige Fragen stellen und umgehend beantworten musst: Bin ich stark genug, um jetzt und hier bis zum anderen Ufer gegen diese Strömung anzuarbeiten? Wenn ja: In welchem Zustand erreiche ich mein Ziel?
Die erste Frage mit Nein zu beantworten, erfordert Selbstbewusstsein. Denn das Nein bedeutet, dass du dein Ziel nicht erreichen wirst, dass du scheiterst, und das Scheitern ist nicht nur unschön, sondern will vor jedem Versuch von Herzen einkalkuliert sein. Aber auch wenn du meinst, dass du schon irgendwie ankommen könntest, notfalls mehr tot als lebendig, solltest du das Scheitern nicht nur in Betracht ziehen, sondern als Option willkommen heißen.
Menschen wie wir, die etwas wollen, tun sich damit schwer. Nicht nur mit dem Scheitern an sich, erst recht damit, erst mitten im Fluss die Alternativen zu erkennen. Zurückschwim men? Kommt nicht infrage, keine Option, nicht vor uns selbst (und schon gar nicht, falls da auch noch Publikum unserem Versuch beiwohnt). Also kämpfen wir weiter gegen die Strömung an, um mit etwas Glück halb tot das Ziel zu erreichen, mit etwas Pech zu ertrinken.
Dabei gibt es einen anderen, besseren Weg, und den solltest du schon vor jedem Ausflug ins Wasser in Betracht zie hen. So unwahrscheinlich es beim Versuch erscheint, ein ganz konkretes Ziel zu erreichen: Es ist manchmal verblüffend weise, sich mittendrin einfach treiben zu lassen.
Dass du dabei dein eigentliches Ziel binnen Minuten auf Nimmerwiedersehen aus dem Auge verlierst, wird dich im Herzen treffen. Aber das sollte es nicht. Denn von dem Augenblick an, in dem du dich dem Strom übergibst und nicht mehr gegen ihn ankämpfst, wirst du neue Kräfte sammeln können. Während du dahintreibst und völlig neue Ufer an dir vorbeigleiten, die du nie im Leben sehen wolltest (und die du anfangs fürchterlich unattraktiv findest), verändert sich der Strom, verändert sich der Flusslauf, und solltest du, nachdem deine Kräfte zurückgekehrt sind, aufmerksam die Uferlinie studieren, wirst du in jedem Fall einen Landeplatz finden, den du lebend erreichen kannst. Meist aber wirst du sogar wesentlich mehr entdecken, nämlich Ziele am Ufer, die dem, das du viel weiter stromaufwärts angepeilt hattest, nicht nur verblüffend ähnlich sind, sondern zudem für dich erreichbar. Du wirst dich wundern, was stromabwärts alles an wunderbaren Zielen am Ufer herumsteht. Lass es auf dich zukommen, statt mitten im Strom zu ersaufen, nur weil du nicht wusstet, welche Chance im Scheitern liegt.
(Ich ahne, was du dazu sagen wirst, schließlich kenne ich dich schon eine Weile: »Toller Tipp, sich in diesem breiten Fluss treiben lassen. Hörst du das? Das ist ein Wasserfall!« Aber da oben steht ja bewusst »Ziele«, nicht »Planschen mit Ohren unter Wasser«, und auch wenn die Metapher hundertmal windschief ist, wirst du wissen, was ich meine:)
Trau dich, dir mitten auf dem Weg zu einem von dir gewählten Ziel dein Scheitern einzugestehen; dich selbst zu enttäuschen sowie dein Publikum am Ufer, dort, wo du gestartet bist; all jene, die ebenso sicher wie du waren, dass du dein Ziel erreichen würdest. Gib nach und gib dich geschlagen, lass dich treiben und tragen von der Kraft des Flusses. Es werden neue Ziele kommen auf dem Weg und sofern du die Augen offen hältst und frei von diesem lästigen Tränenfilm, wirst du eine andere Binsenweisheit immer wieder bestätigt finden: Jede verpasste Gelegenheit gibt den Blick frei auf eine bessere.
Angst
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Diffuse Angst ist ein schlechter
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