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Quipu

Quipu

Titel: Quipu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Vidal
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damit er den Spaniern nicht in die Hände fiel.«
    Wolken und Sonne wechselten sich ab, und immer wieder fielen ein paar Regentropfen. Als sie den Felsblock umrundeten, sahen sie, dass in ihn Treppen, Absätze, Nischen und würfelförmige Erhebungen gehauen waren. Die sorgfältig gearbeiteten Kanten und das klare Spiel von Licht und Schatten deuteten darauf hin, dass es sich um eine weitere Sternwarte handelte. Es war dieselbe Steinmetzkunst, die sie bereits beim »Müden Stein« von Sacsahuamán und in Qenqo Grande hatten bewundern können. Aber auch dasselbe Rätsel: Welchen Zweck erfüllte sie?
    Hier,in Ñusta Hispana,schien sie zwischen dem aus der Tiefe der Erde sprudelnden Wasser und der aus der Höhe herabscheinenden Sonne zu vermitteln. Diego de Acuña hatte in seiner Chronik die Vermutung geäußert, dass dieser Stein Cápac war; vielleicht der Grabstein von Manco. Eine weitere Verbindung zum Sonnentempel von Cuzco, der ebenfalls königliches Pantheon war. Vielleicht hatte Sírax mit dem Quipu versucht, den Weg zwischen diesen |416| beiden so eng mit ihrer Familie verbundenen Sonnenheiligtümern aufzuzeichnen, um über diese Achse eine Verbindung zwischen der alten Hauptstadt und Vilcabamba zu schaffen.
    Umina betrachtete den großen Stein, als wollte sie ihm sein Geheimnis entreißen.
    »Und was bedeutet nun
Ñusta Hispana
?«, fragte Sebastián erneut.
    »›Spanische Jungfrau‹ oder ›spanische Prinzessin‹. Der wahre Name ist allerdings
Ñusta Jispana.
«
    »Und worin liegt der Unterschied?«
    Umina zögerte mit der Antwort. Sebastián entging nicht, dass sie verlegen wurde.
    »Das sind Frauenangelegenheiten«, wich sie seiner Frage aus. »Komm mit.«
    Über ein paar in den Felsen gehauene Stufen führte sie ihn nach oben. Die Kuppe des Steins war geglättet und seine natürlichen Risse waren zu kleinen Kanälen vertieft worden. Sie zeigte ihm einen feinen Schlitz, der an einer Seite nach unten führte. Er roch eindeutig nach Urin.
    »
Ñusta Jispana
heißt ›Urinal der Prinzessin‹.«
    »Ich verstehe noch immer nicht.«
    »Erinnerst du dich an Qenqo?«, fragte Umina.
    »Ja, natürlich. Oben auf dem Felsen waren zwei Hügelchen mit einem ähnlichen Kanal in der Mitte.«
    »Richtig. Dort wurde früher die Jungfräulichkeit eines Mädchens untersucht. Es musste zwischen diesen beiden Erhebungen urinieren. Traf es in den Schlitz in der Mitte, war es noch Jungfrau. Ihr Urin rann dann in jener neun Mal gewundenen Rille hinab. Das hier ist etwas Ähnliches. Die Inkas wussten, dass eine noch nicht entjungferte junge Frau den Urin besser halten und sogar auf einen bestimmten Punkt konzentrieren kann, während die, die bereits körperliche Veränderungen durch das männliche Glied erfahren hat, dazu nicht mehr in der Lage ist.«
    »Und wenn sie keine Jungfrau mehr war?«
    »Folge mir.«
    |417| Sie stiegen auf demselben Weg wieder hinunter, und dann führte ihn Umina auf die nach Norden weisende Seite des Felsens, die mit Moos und Flechten bewachsen war. Über seine ganze Breite verlief eine in den Granit gemeißelte Rille, aus der würfelförmige Vorsprünge herausragten.
    »Sieh dir das an«, sagte sie und deutete darauf. »Sie sind wie Knoten in einer Schnur. Wie viele sind es?«
    »Neun.«
    »Verstehst du jetzt?«
    »Das kann Zufall sein.«
    »Zufall   …? Komm mit.«
    Sie führte Sebastián auf die östliche Seite des Steins. Dort eröffnete sich eine Höhle, in der aus einer Wand weitere Würfel herausragten. Sie bat ihn, sie zu zählen.
    »Wieder neun«, erklärte Sebastián.
    »Wenn dieser Stein dem ›Müden Stein‹ und dem von Qenqo Grande gleicht, dann deswegen, weil er vermutlich dazu diente, den Lauf der Sonne zu erforschen, indem man die Schatten beobachtete, die sie auf diese geometrischen Figuren warf, die die wichtigsten heiligen Stätten darstellen, die Verbindung der
huacas.
«
    »Also eine steinerne Entsprechung zu Sírax’ Quipu.«
    »Wahrscheinlich eher eine Ergänzung. Zumal das ganze Gebiet um diesen Stein herum damals vermutlich bebaut war, auch wenn es heute verkommen ist. Diese Gräben, die wir hier sehen, waren mit Sicherheit der Entwurf für landwirtschaftliche Terrassen. Das hier konnte gleichermaßen als Kalender, Andachtsstätte und Fruchtbarkeitsvorhersage dienen. Eine Fruchtbarkeit, in der die Frau eingeschlossen war.«
    »Ich verstehe. Diese neun Erhebungen stehen für die Schwangerschaft, die neun Monate.«
    »Oder anders ausgedrückt: Sírax war schwanger.«
    »Woher

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