Quipu
nimmst du diese Gewissheit?«
Da holte Umina erneut Sírax’ Tuch heraus, das sie aus der Krypta des Sonnentempels mitgenommen hatte.
|418| »Erinnerst du dich an diesen Stoff?«, fragte sie. »Man nennt ihn
lloqe pañamanta
. Er ist ausgesprochen fein und kann nur von jemandem gefertigt werden, der sehr geschickt ist, denn man muss abwechselnd fünf Fäden nach rechts und fünf nach links weben. Dadurch entsteht in der Mitte eine Art Kanal, durch den das Wasser abläuft, ohne dass der Stoff nass wird. Er ist also vollkommen wasserdicht.«
»Und was beweist das?«
»Es ist ein schützender Stoff für Schwangere. So haben es mir die webenden Frauen erklärt.«
»Gut. Nehmen wir also an, sie war schwanger, und Sírax’ Grab und Wegweiser dienten dazu, ihre Geschichte zu erzählen. Dann lass uns zusammenfassen: Sie lebt mit ihrer Mutter Quispi Quipu im Schlangenhaus in Cuzco, bis Túpac Amaru den Thron besteigt und sie nach Vilcabamba beordert, wo sie den Plan der Inkas erfüllen soll. Seine Boten begeben sich nach Cuczo.«
»Und in derselben Nacht lernt sie Diego de Acuña kennen, der sie vor den Zudringlichkeiten der spanischen Soldaten rettet.«
»Genau. Von Cuzco aus bringen Túpac Amarus Boten sie zunächst zum Felsen von Qenqo Grande, dann nach Ollantaytambo und schließlich ins ›Nest des Kondors‹. Dort muss sie all die Geheimnisse erfahren haben, die sie weitergeben sollte. Und als sie schwanger war, brachten sie sie hierher, zum Weißen Stein.«
»Und von wem war sie schwanger?«
»Wenn sie nach demselben Plan verfuhr wie ihre Mutter, dann von ihrem Bruder Túpac Amaru. Das wäre am folgerichtigsten.«
»Aber weshalb sah sie sich dann gezwungen, das Land mit dem Schwarzen Schiff zu verlassen? Warum blieb sie nicht hier oder in Cuzco?«
»Die Antwort auf diese Frage kannte wohl nur Sírax’ Zofe, diese Sulca, die mit ihr nach Spanien reiste. Und die Sírax’ Leichnam dann mumifizieren ließ und mit ihm zurückkehrte, um ihn im Kloster Santo Domingo zu bestatten. Und dann reiste sie weiter, nach Vilcabama, wo sie auch starb. Das ist die Spur, die wir nun verfolgen müssen. Das Auge des Inkas. Der Kopf, an dem das |419| Sternzeichen der Schlange endet, welches hier, in Ñusta Hispana, beginnt. Vergiss nicht, dass Túpac Amaru ›Königliche Schlange‹ bedeutet.«
»Wir brauchen einen Platz zum Übernachten.«
»Dieser Ort hier ist viel zu unsicher. Wir sollten eine höher gelegene Stelle suchen.«
Sie stiegen auf ihre Pferde und setzten ihren Weg auf einem Kiespfad fort, der sie aus der Niederung hinausführte.
Doch das nutzte ihnen wenig. Denn als sie in einen Wald ritten, wo der Weg sich verengte, stellten sich ihnen auf einmal ein halbes Dutzend bewaffnete Indios in den Weg.
»Mach bitte keine heftigen Bewegungen, die darauf hindeuten könnten, dass du eine Waffe hast«, flüsterte Umina Sebastián zu.
»Noch könnten wir umkehren«, sagte der Ingenieur.
Als hätte man ihn gehört, vernahmen sie hinter sich ein Geräusch. Und als sie sich umwandten, erblickten sie weitere Indios, die aus dem Dickicht herausgetreten waren, um ihnen den Rückweg abzuschneiden.
Sie saßen in der Falle.
|420| Totorgoaylla
S ie nahmen all ihren Mut zusammen und ritten langsam auf die Gruppe zu. Die Haltung der Indios verriet Unsicherheit und Misstrauen. Und das machte sie noch gefährlicher.
»Wir nähern uns ganz langsam, ohne unsere Waffen zu berühren oder Furcht zu zeigen«, schärfte Umina Qaytu und Sebastián ein, die neben ihr ritten.
Doch sie hatte nicht mit den Indios hinter sich gerechnet. Der Anführer der Gruppe, die ihnen den Fluchtweg abgeschnitten hatte, trat auf die junge Frau zu und packte ihr Pferd an den Zügeln. Sebastián sah, dass er sie auf Quechua ansprach, während sie ihn verächtlich anblickte.
Qaytu hatte seine Worte offensichtlich verstanden, denn er beugte sich blitzschnell zu ihm herab und fuhr ihm mit der Peitsche übers Gesicht. Der Indio schrie auf.
Es wurde unerträglich still, als er danach blitzschnell sein Gewehr auf den Maultiertreiber richtete. Doch Umina ging dazwischen. Ganz ruhig stieg sie vom Pferd und wandte sich dann mit fester Stimme an die Gruppe vor ihnen.
Bangen Herzens verfolgte Sebastián das Geschehen. Nach langem Schweigen trat schließlich einer der Männer auf den Indio zu, der mit der Waffe auf Qaytu zielte, und veranlasste ihn mit scharfen Worten, sein Gewehr zu senken.
Umina wandte sich darauf an den Mann, der der Anführer der ganzen
Weitere Kostenlose Bücher