Quipu
verborgenen Orte auf, von deren Existenz die Spanier keine Ahnung hatten.
Der Anblick der Zitadelle war beeindruckend. Ihre überwucherten Ruinen sahen aus wie ein Amboss, der sich von einer hohen, die Landschaft im Hintergrund abschließenden Bergspitze herabstürzte. |410| Und von dort aus breiteten sich unzählige Terrassen und Bauten über einen nebligen, wolkengekrönten Gebirgshang aus.
Am Fuß des Berges hütete ein alter Mann zusammen mit einem Jungen eine Lamaherde und schrak zusammen, als er sie auftauchen sah. Sie stiegen ab und luden die beiden ein, das Essen mit ihnen zu teilen. Sie fragten sie, wie der Ort heiße. Der Hirte antwortete ihnen, man nenne ihn Machu Picchu, was »Alter Berg« bedeute. Und er bestätigte ihnen, dass es in den Ruinen dieser Stadt eine heilige Stätte gebe, die unter dem Namen »Nest des Kondors« bekannt sei, da der Ort einst die Form dieses Tieres gehabt habe.
Er bot an, sie zum
huaca
zu bringen. Es war ein Granitfelsen, den man dergestalt behauen hatte, dass er Kopf, Schnabel und Kragen eines Kondors nachbildete. Die beiden dahinter befindlichen, sich in die Höhe erhebenden Felsen schienen die ausgebreiteten Flügel nachzubilden.
Den acht dort zusammenkommenden Pfaden nach zu urteilen, musste es sich um eine bedeutsame Kultstätte handeln. Zudem gab es dort ein einzigartiges astrologisches Observatorium, ein
intihuatana
.
»Was ist ein
intihuatana?
«, wollte Sebastián wissen.
»Ein ›Ankerplatz der Sonne‹«, erklärte Umina. »Eine steinerne Erhebung auf einem der Felsen, die am Tag der Juni-Sonnwende, der in diesen Breiten der kürzeste ist, die Sonne rituell binden und zurückholen soll.«
Von dem Hirten erfuhren sie auch, dass an diesem Ort noch nie eine Messe gelesen und auch nie Geld eingeführt worden war. Es gab lediglich Tauschhandel. Daher verfügten sie auch nicht über Pfarrer, Kaufleute oder andere Unterhändler. Und sie waren auch nicht für den Kriegseinsatz gezählt worden.
»Welch ein Segen für sie«, meinte Sebastián, als Umina ihm dies übersetzt hatte.
Wollten sie Näheres wissen, bot der Hirte ihnen an, so könne er sie ins Nachbardorf führen, wo er sich mit seinem Sohn zur Ruhe begeben werde.
|411| Dort erblickten sie Frauen, die unter einem Baum webten, wobei sie den Stoff mit dem Fuß und der linken Hand festhielten, sodass es fast so aussah, als seien die Stoffe Teil ihrer Körper. Sie hatten sich die alten Webtechniken und Motive mit den leuchtenden Farben des Landes bewahrt, dem Blau des Himmels und dem Gelb der Sonne. Und so webten sie über die unbeirrbare Webkette vergangener Zeiten im Rhythmus der Jahreszeiten immer weiter all jene Geschichten, die diese Orte hervorgebracht hatten.
Der Hirte führte sie zu der Frau, die anscheinend das Sagen hatte. Als Umina sie fragte, was die Stoffe enthielten, antwortete sie:
»Die Gesetze, unsere Gründungsgeschichte, das Brauchtum. Und sie sind zudem Kalender: Sie sagen die Tage an, die Ernten, alles.«
Die Frau erzählte ihnen, dass man ihre Stoffe
quechua
nenne und dass ihre Schussfäden nicht abgeschnitten würden. Sie seien von hoher Beständigkeit, wie auch die Generationen, die sie webten. Stoffe wie lebendige Wesen. Sie zeigte ihnen das vorherrschende Motiv: Rauten über Rauten, ineinander verschlungen, ein diagonales Netz, erweitert in die Unendlichkeit, über ein Leben hinausweisend, und sie erzählte ihnen von den Frauen, die in Berührung mit der Erde ihre Fruchtbarkeit zelebrierten und ihre Erfindungsgabe entwickelten, eingebettet in eine Tradition, die es ihnen ermöglichte, frei zu sein, ihre Freuden, Hoffnungen, Schmerzen und Ängste, ihren ureigensten Glauben in diese Stoffe zu weben …
Als Umina glaubte, das Vertrauen der Frau gewonnen zu haben, zeigte sie ihr den Stoff aus Sírax’ Grab, mit dem das Haar der Mumie umwickelt gewesen war. Die Weberin vermochte ihr Erstaunen nicht zu verbergen. Sie betrachtete den Stoff lange. Dann zeigte sie ihn ihren Kameradinnen, die sofort zu tuscheln anfingen. Sebastián konnte mehrmals
Ñusta Hispana
heraushören. Das war ein weiterer Markstein aus Sírax’ Wegweiser, wie er sich erinnerte, doch Umina hatte sich damals geweigert, ihm die Bedeutung der beiden Wörter zu erklären.
Da wurde die oberste Weberin mit einem Mal sehr ernst, ja geradezu |412| besorgt und sagte etwas zu Umina, worauf diese Sebastián und Qaytu wegschickte. Offensichtlich handelte es sich hier, wie bereits in Qenqo Grande,um etwas,das nur Frauen
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