Quipu
wissen durften.
So konnten die beiden Männer nur aus der Ferne beobachten, wie die Weberin den Stoff noch einmal genau in Augenschein nahm. Sie drehte ihn links- und wieder rechtsherum und schien dann die Fäden zu zählen. Ihre Untersuchung war langwierig, und immer wieder holte sie die Meinung ihrer Kameradinnen ein, bis sie schließlich einen engen Kreis um Umina bildeten.
»Was konntest du über Sírax herausfinden?«, fragte der Ingenieur die junge Frau, als sie sich nach einer Weile wieder zu ihnen gesellte.
»Sie kennen die Geschichte einer Inkaprinzessin, so, wie der
quipucamayo
aus Ollantayambo sie uns erzählt hat. Dieser Ort hier muss eine der letzten heiligen Stätten der Inkaweisheit gewesen sein, hier wurde sie bewahrt, um eines Tages wiederzuerstehen. Deshalb hat Sírax wohl hier auch ihre Ausbildung zu Ende geführt.«
»Und stimmt es, dass die Frauen all das in ihren Stoffen erinnern?«
»Sie sagen, sie weben noch immer auf die alte Art und verwenden dabei ein Motiv, das ›Der Schwanz der Schlange‹ heißt und mit dieser Prinzessin und dem
Yurac Rumi,
dem ›Weißen Stein‹ von Ñusta Hispana, zu tun hat, der sich nördlich von hier, im Tal des Vitcos, eines Nebenflusses des Urubamba, befindet. Ich denke, sie würden uns sicher noch mehr erzählen, wenn wir ihnen das rote Quipu zeigen.«
»In Ordnung, gehen wir zu ihnen«, stimmte Sebastián zu und schickte sich an, sein Hemd aufzuknöpfen.
»Um Himmels willen, nein«, sagte Umina, »nimm es ab und gib es ihr. Zeig ihnen dein Vertrauen.«
Als er das Quipu der Frau aushändigte, blickte diese auf das Flechtwerk aus Schnüren und Knoten. Es schien ihr Pein zu bereiten, denn sie reichte es augenblicklich an eine Kameradin weiter, die es ihr gleichtat, sodass das Quipu von Hand zu Hand |413| wanderte. Dann besprachen sie sich untereinander. Am Ende wurde es sehr still.
Mit gesenktem Kopf murmelte die wortführende Weberin, das seien sehr schwerwiegende Dinge, und rief dann den Hirten herbei, mit dem sie in so scharfem Ton sprach, dass über ihre Haltung kein Zweifel mehr bestand.
»Was ist los?«, fragte Sebastián Umina, die dem Gespräch atemlos gelauscht hatte.
»Sie sagt, wir sollen verschwinden.«
»Aber warum?«
»Ich vermute, dass dieser rote Quipu Fährten enthält, die sie uns nicht enthüllen wollen.«
»Den Weg nach Vilcabamba?«, mutmaßte Sebastián.
»Still! Sprich keine Namen aus, die sie verstehen können. Sie wurden bestimmt schon von anderen danach gefragt, und sie wollen keine Schwierigkeiten.«
Als die Dorfbewohner sahen, dass sie sich nicht von der Stelle rührten, trat einer der Männer auf Umina zu und sagte zu ihr etwas, das keineswegs freundlich klang.
»Lasst uns gehen«, sagte die Mestizin zu Sebastián und Qaytu. »Auf die Pferde, und zwar augenblicklich, damit kein Zweifel aufkommt.«
»Das Einzige, was wir herausgefunden haben«, sagte Umina bedauernd, als sie wenig später auf einem oberhalb des Urubamba verlaufenden Weg weiterritten, »ist die Richtung, in der Ñusta Hispana zu finden ist und wo der Schwanz unseres letzten Sternzeichens, das der Schlange, beginnt. Aber möglicherweise haben wir einen zu hohen Preis für diese Auskunft bezahlt.«
»Warum?«
»Unsere Fragen können sich gegen uns richten, denn sie lassen uns wie Plünderer erscheinen, die Vilcabamba suchen. Carvajal hat gewiss Späher und Verbündete unter den Indios. Sie werden ihm mitteilen, dass wir nach Ñusta Hispana unterwegs sind, und ihn auf unsere Spur bringen.«
|414| Und Umina täuschte sich nicht. Als sie sich etwas von dem Ort entfernt hatten, machte Qaytu sie auf die Rauchzeichen aufmerksam, die von Hügel zu Hügel zogen. Und in der Nacht wurden sie zu Feuern, deren Botschaft nach altem Inkabrauch von Wachturm zu Wachturm übermittelt wurden. Irgendjemand warnte die nächsten Ortschaften und teilte diesen, wie auch ihren Verfolgern, mit, wohin sie unterwegs waren.
|415| Ñusta Hispana
D ort vorne ist der Weiße Stein«, rief Umina und deutete auf einen großen Felsen. An seinem Fuß sprudelte eine Quelle, deren Wasser sich glitzernd den Abhang hinabschlängelte und schließlich in den Vitcos mündete. Der helle Granitstein zeichnete sich gegen die beängstigend dunklen Wasser eines dahinter befindlichen Sees ab, der jene unverwechselbare Atmosphäre von Stille und Besinnlichkeit schuf, die heiligen Stätten zu eigen ist.
»Darauf haben die Inkas von Vilcabamba den Punchao gestellt. Sie haben ihn hierhergebracht,
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