Quipu
der düstere Schwarm gerade auf die Jagd vor. Als eines der Tiere, von einem Artgenossen zurückgestoßen, den Halt verlor, sank es flatternd zum Altar des Punchao herab, doch kaum war es aus dem vom Sonnenlicht erhellten Kreis heraus, fiel es wie vom Blitz getroffen zu Boden.
Und da dämmerte es ihnen: Sie befanden sich im Inneren eines Vulkans, der das Gebirge durchzog. Durch ihn pfiff der Wind und drang die Sonne, wenn sie hinter dem Gipfel des Sinca unterging. Und aus einigen Stollen strömte Gas. Die von der goldenen Konkavscheibe um den Kopf des Götzen zurückgeworfenen Strahlen |451| wiesen den einzig begehbaren Weg. Ein Weg, der gerade verschwand, da das Licht verlosch. Es würde erst wieder in diesen Raum fallen, wenn es einen tiefer gelegenen Stollen fände.
»Wenn wir in die Stollen voll Gas hineingeraten, sind wir verloren«, sagte Sebastián.
»Erinnere dich an die Warnung, die Sírax Diego mit auf den Weg gab: ›Meide die Höhle, denn sie birgt große Gefahr. Solltest du dich jedoch gezwungen sehen, sie zu betreten, gehe nur dort, wo es Fledermäuse gibt.‹«
»Dann sollten wir immer direkt unter ihnen bleiben.«
Mit dem ihnen Atemluft gewährenden Fledermausschirm über sich stiegen sie in die Höhle hinunter, in der sich der Punchao befand. Über einen natürlichen Schacht fielen noch immer die Sonnenstrahlen auf ihn nieder.
Dort angekommen, verschlug es ihnen fast die Sprache, als sie mit den Fackeln den Raum ausleuchteten.
»Sieh nur«, rief Sebastián überwältigt. »Der Schatz der Inkas! Er ist keine Legende!«
Rings um sie herum lagen Gold- und Silberbarren, überquellende Gefäße mit Münzen und Juwelen, goldene Tierfiguren. Und um das Ganze herum wand sich eine riesige goldene Schlange, die alles zu bewachen schien.
»Die goldene Kette, die Huayna Cápac fertigen ließ, um die Geburt seines Sohnes Huáscar zu feiern!«
»Und das hier? Sind das nicht Quipus?«, fragte Sebastián und deutete auf eine Reihe sorgfältig aufgereihter Schnüre.
»Das sieht aus wie ein Archiv«, meinte Umina aufgeregt. »Vielleicht haben die Inkas damit weitere
huacas
festgehalten, die wiederum die Schätze und Erinnerungen ihres Volkes bewahren.«
»Mit unserem roten Quipu könnte man versuchen, sie ausfindig zu machen.«
»Vielleicht ist es ja das Quipu aller Quipus?«
»Und was ist das dort in der Mitte des Raums?«
Der Ingenieur deutete auf einen Gegenstand am Ende der goldenen Kette.
|452| »Eine Truhe!«, rief Umina aus. »Eine alte spanische Truhe!«
Es war kaum zu glauben. An diesem Ort wirkte sie so fehl am Platz wie das Quipu in Juan de Fonsecas Arbeitsraum. Doch es bestand kein Zweifel.
Und auf einmal schien ihre ganze Reise, diese lange Pilgerschaft voller Abenteuer, eine Größenordnung anzunehmen, die sie zu erdrücken drohte.
Sebastiáns Hände zitterten, als sie nun gemeinsam auf die Truhe zugingen. Er steckte die Fackel in den Boden, sah die Mestizin an, und gemeinsam schickten sie sich an, sie zu öffnen. Der Deckel fiel quietschend hintenüber.
Ihr Inhalt schien völlig bedeutungslos zu sein. Nahezu alltäglich. Es war nur Frauenkleidung. Europäische Kleider, ausgebleicht und alt. Enttäuscht blickten sie sich an.
»Wegen der paar Fetzen hat jemand die Truhe bis hierher geschafft?«, fragte Umina ungläubig. »Von so weit her? Das kann nicht sein.«
Als sie die Kleider durchwühlten, vernahmen sie jedoch auf einmal ein dumpfes Plopp auf dem Boden der Truhe.
»Was war das?«, fragte Sebastián beunruhigt.
»Da ist noch etwas versteckt.«
Erneut begann Umina in der Truhe zu wühlen, bis sie schließlich einen Triumphschrei ausstieß und einen mit Siegellack verschlossenen Zylinder herauszog, der den Durchmesser eines Fingers maß und eine Länge von knapp zwei Handspannen hatte.
»Er ist mit demselben Blutknoten versiegelt wie der Spiegel und das Quipu«, stellte Sebastián aufgeregt fest.
Er erbrach das Siegel und zog ein Schriftstück aus altem Papier heraus. Vorsichtig rollte er es auf.
»Es ist auf Spanisch geschrieben … Der Schrift nach zu urteilen, stammt es aus derselben Zeit wie Diego de Acuñas Chronik! Und es ist auf das Jahr 1573 datiert.«
»Das Jahr, in dem Sírax nach Spanien kam.«
Das Dokument ließ wenig Zweifel zu. Es war eine beglaubigte Niederschrift, in der Sírax’ Dienerin Sulca die Gründe erklärte, |453| weshalb ihre Herrin so gehandelt hatte, wie es geschehen war.
Sulcas Bericht begann mit der familiären Vorgeschichte der
Weitere Kostenlose Bücher