Quipu
des Überfalls kein Zufall war. Sie wollten gerade Inti Raymi, das Fest der Juni-Sonnwende, feiern. Und um das zu beweisen, hat er vorgeschlagen, uns einer ernsthaften Prüfung zu unterziehen.«
»Was für einer Prüfung?«
»Das habe ich nicht herausfinden können. Doch eins ist gewiss: Von ihr wird unser Schicksal abhängen.«
Sie wurden aufgefordert zu schweigen. Die Indios zeigten auf die Sonne, die bald unterging, und riefen mehrmals
intihuatana
.
Sebastián, Umina und Qaytu wurden auf einen schmalen Pfad zugetrieben, der sich zwischen den Felsen auftat und ein weiterer Zugang zu der verlorenen Stadt sein musste. Dabei mussten sie mehreren Löchern im Boden ausweichen, aus denen ein scheußlicher Gestank emporstieg.
»Wie furchtbar!«, rief Umina, die vor Sebastián ging, und schüttelte sich. »Sie sind in ihre Falle gegangen.«
Stirnrunzelnd blickte Sebastián hinunter, wo auf spitzen Bambuspfählen die Leichen spanischer Söldner aufgespießt waren.
»Wer ist das? Carvajal? Montilla?«, fragte er.
»Das lässt sich nicht mehr sagen, ihre Gesichter sind bis zur Unkenntlichkeit entstellt.«
Da schrie der Priester etwas und deutete auf die Sonne, die sich sichtlich neigte, weshalb sie noch mehr angetrieben wurden.
|444| Schließlich gelangten sie auf eine große Felsenplatte, in deren Mitte sich ein rechteckiger Vorsprung erhob. Aus ihm ragte der spitze Zeiger einer Sonnenuhr, der aus reinem Gold gefertigt war.
»Das ist die
intihuatana!
«, sagte Umina.
Sie deutete auf den Ankerplatz der Sonne, Schauplatz der Juni-Sonnwende, des kürzesten Tages des Jahres.
»Und was passiert jetzt?«
»Der Priester muss die Sonne an diesen goldenen Stab binden. Sie glauben nämlich, das Gold sei aus dem Schweiß ihrer Strahlen geschmiedet. Auf diese Weise sollen die Tage wieder länger und heller werden.«
»Und wie will er das erreichen?«
»Mit Anrufungen und Opfern.«
»Und damit sind wir gemeint?«, fragte Sebastián bang.
Man hieß sie schweigen und stieß sie in Richtung des Steins. Es fehlte nicht mehr viel, bis die Sonne genau vor ihnen über den Gipfeln untergehen würde, die die einstige Bergfeste der Inkas umschlossen und sie nach Westen hin schützten.
Auf einmal blieb Sebastián, der vorausging, abrupt stehen. Er war kreideweiß.
»Hast du nicht nach Montilla gefragt? Hier hast du ihn.«
Auf dem Boden lag ein Leichnam, dessen Kleidung völlig zerfetzt war. Er war kaum wiederzuerkennen, so schlimm hatte man ihn zugerichtet. Doch es war der Marqués, daran bestand kein Zweifel.
»Mein Gott!«, rief die junge Frau aus.
Die Blutergüsse im Gesicht, das strähnige, an den blutverkrusteten Wangen klebende Haar, die zerquetschten, ausgerenkten Gliedmaßen gaben ausreichend Zeugnis darüber, wie er zu Tode gekommen war.
Doch Umina blieb keine Zeit, ihn zu bedauern.
»Vorsicht, da ist Carvajal!«, schrie Sebastián. »Hinter dem Stein! Er ist bewaffnet!«
Carvajal hatte sich hinter der brusthohen, die
intihuatana
abschließenden Steinmauer verschanzt und mit Feuerwaffen gerüstet, |445| sodass die Indios sich ihm nicht zu nähern wagten. Doch wegen der Inti-Raymi-Zeremonie hatten sie keine Wahl. Deshalb wollten sie Sebastián und Umina vorschicken, um ihn von dort zu vertreiben. Auf diese Weise konnten sie zudem herausfinden, ob sie Freunde oder Feinde dieses Mannes waren.
Erbarmungslos schubste man sie weiter in Richtung der steinernen Plattform.
»Lass mich vorangehen. Auf mich wird er nicht schießen«, sagte Umina zu Sebastián.
»Nein! Nicht!«, schrie der und packte die junge Frau, die sich an ihm vorbeidrängen wollte. Im selben Augenblick fiel ein Schuss, und eine Kugel pfiff ihnen um die Ohren.
Sebastián machte Qaytu ein Zeichen, Umina zurückzuhalten, während er sich vorsichtig auf die Plattform zubewegte.
Da fiel ein weiterer Schuss. Doch Sebastián war gewarnt. In voller Länge warf er sich auf den Boden und robbte hinter die steinerne Sonnenuhr.
Carvajal wollte ihn nun nicht noch einmal verfehlen und wagte sich deshalb aus seinem Versteck hervor. Diesen Augenblick nutzte Umina. Sie hatte Montillas Degen ergriffen und warf diesen nun dem Ingenieur zu. Doch die Waffe prallte gegen die
intihuatana
und landete neben Qaytu. Der Maultiertreiber lief darauf zu … da fiel ein neuerlicher Schuss. Qaytu brach zusammen.
Umina wollte ihm zu Hilfe zu eilen.
»Nein! Bleib, wo du bist!«, schrie Sebastián verzweifelt und stürzte zu dem Degen, noch ehe der Gegner das Gewehr neu laden
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