Quipu
letzter Sonnenstrahl aus der Höhe herab auf das unbewegliche Gesicht des Götzen, auf die Scheibe, die seinen Kopf umgab, und ließ dann Umina und Sebastián im Licht erstrahlen.
Und es war, als verwandelten sich die Glieder der um den Schatz und die Truhe gewundenen Kette in eine goldene Lichtspur. Als schlügen die in der Brust des Punchao bewahrten Herzen ihrer königlichen Vorfahren in ihnen weiter, alle Generationen überspringend, die ihre Züge und Gesten geprägt hatten, jene Verzweigungen eines Blutes, das mit so viel Sehnsucht, Kampfgeist, Ehrgeiz und dunklem Erbe pulsiert hatte. Eines Blutes, das in der Lage war, eine Brücke zwischen den Jahrhunderten und Weltmeeren zu schlagen. Und das in ihnen beiden, Nachfahren der letzten Inkaprinzessin, nun würdevoll weiterfloss.
|459| Das Verknüpfen der Schnüre und Fäden
D ie Quipus hielten das Reich der Inkas zusammen – doch das Rätsel dieser Knotenschnüre ist bis heute nicht gelöst. Noch hat man für ihre Entschlüsselung keinen Stein wie einst in Rosette, jener Hafenstadt in Ägypten, gefunden: Der Rosettastein, jene Granitstele mit ihren dreisprachigen Aufzeichnungen, hatte maßgeblich zur Übersetzung der ägyptischen Hieroglyphen beigetragen. Es fehlt der Schlüssel, um in den innersten Kern dieser faszinierenden Hochkultur vorzudringen.
Weltweit sind etwa sechshundert Quipus bekannt: eine unbedeutende Menge, verglichen mit den Tausenden und Abertausenden von Quipus, die während des
Tahuantinsuyu
geknüpft und dann von den Spaniern zerstört wurden. Die größte Sammlung besitzt das Ethnologische Museum in Berlin mit rund dreihundert Quipus, gefolgt vom
American Museum of Natural History
in New York mit ungefähr hundert.
Die wissenschaftliche Erforschung der Quipus ist indes noch nicht weit vorangeschritten. Lange hielt sich die Theorie des Amateurwissenschaftlers Leland Locke, einzelne Knoten stünden für Ziffern, dickere Knoten für Zehner und Leerstellen für Nullen. In den 1970er-Jahren stellten Forscher der Cornell University dann die These auf, dass den Quipus ein Dezimalsystem zugrunde liege. In jüngster Zeit unterzog ein Forschungsteam um den Anthropologen Gary Urton an der Harvard University in Cambridge mehrere Quipus einer Computeranalyse und fand heraus, dass einige der untersuchten Knotenschnüre der staatlichen Buchhaltung dienten. Andere Wissenschaftler haben |460| die Quipus mit dem EA N-Codes verglichen. Und in der Tat: Diese verschieden breiten, parallelen Striche, mit denen die Angaben über Hersteller, Herkunftsort, Warenart usw. verschlüsselt werden, könnte man durchaus als neuzeitliche Quipus betrachten. Angesichts des Variantenreichtums der Quipus werden immer neue Vermutungen angestellt: So brachten die Anthropologen Susan Niles und Frank Salomon zum Beispiel die Quipus und das System der
ceques
und
huacas
– über deren Bedeutung sich die Forschung ebenfalls nicht einig ist – mit der Organisation des Landes in Verbindung.
Nach wie vor sind also viele Fragen offen. Für meinen Roman ›Quipu‹ habe ich mich vor allem von den Arbeiten von Tom Zuidema und Bauer/Dearborn inspirieren lassen, aber auch von den im siebzehnten Jahrhundert verfassten Schriften des Jesuitenpaters Bernabé Cobo, hatte die Gesellschaft Jesu der Bedeutung der Quipus seit jeher doch große Aufmerksamkeit geschenkt. Sírax’ Frisur wurde im Übrigen inspiriert von zwei Mumien, die in der
Casa del Inca Garcilaso
in Cuzco beziehungsweise im
Museo del Oro
in Lima aufbewahrt werden.
Dies alles verdeutlicht die außergewöhnliche Originalität der Inkakultur, welche auf ein Aufzeichnungssystem setzte, das an das Textile, die verwandtschaftlichen Beziehungen und das Land geknüpft war. ›Quipu‹ verdankt diesbezüglich viel Joaquín Torres Garcías ›Universalismo constructivo‹ und César Paternostos kunstgeschichtlichem Essay ›El paradigma amerindio‹. Letzterer weist übrigens darauf hin, dass die Sanskritworte
Tantra
»Webkette« und
Sutra
»Faden« bedeuten.
Nicht unerwähnt sollte auch bleiben, welche künstlerischen Freiheiten ich mir genommen habe.
Viele der Romanfiguren haben historische Vorbilder wie beispielsweise die Gebrüder Pizarro, Manco Cápac, Túpac Amaru, Francisco de Toledo oder Martín García de Loyola. Eine der historischen Figuren möchte ich dabei besonders hervorheben: José Gabriel Condorcanqui führte im November 1780 die bis |461| dahin größte Rebellion im Vizekönigreich gegen die spanischen
Weitere Kostenlose Bücher