Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Quipu

Quipu

Titel: Quipu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Vidal
Vom Netzwerk:
Weise zwischen seinen Wurzeln hervorzuquellen, die sich über den Eingang zu einem unterirdischen Stollen ausgebreitet hatten. Der stolze Baum hatte die Quadersteine im Eingangsbereich gespalten, bis von dem Türsturz nichts mehr zu sehen war. Doch hatte er den Zugang zu dem Stollen nicht ganz verschließen können.
    Mit Macheten schlugen die Indios den Eingang frei. Gemeinsam mit Umina halfen sie dem geschwächten Sebastián dann durch das Loch. Innen mussten sie weiteren Wurzeln ausweichen, die mit ihrer merkwürdigen Art, das Sonnenlicht aufzunehmen, ein unruhiges Formenspiel zeichneten.
    Schließlich gelangten sie an die Stelle,wo der Stollen in den Berg hinabführte. Ihre Begleiter entzündeten die dort bereitliegenden Fackeln und händigten sie Sebastián und Umina aus. Dann deutete der Dorfobere auf einen Gang und eine in den harten, schwarzen Fels geschlagene Treppe. Dort sollten sie weitergehen.
    »Das gefällt mir ganz und gar nicht«, murmelte Umina.
    »Mir auch nicht«, sagte Sebastián. »Sie bleiben zurück, wie vorher, als sie uns zu dem
intihuatana
schoben, wo Carvajal im Hinterhalt lag. Aber was bleibt uns anderes übrig?«
    »Hör dir das an.«
    Sie hielten unvermittelt inne, damit ihre Schritte nicht jenes Geräusch überdeckten, das auf sie zukam und laut von den Wänden |449| widerhallte. Es war ein furchterregendes Rasseln, wie das Röcheln eines Sterbenden. Hinzu kam ein schrilles Quieken, das immer wieder anschwoll und über sie hinwegfegte.
    »Das lässt einem die Haare zu Berge stehen«, flüsterte Umina angsterfüllt. »Was ist das?«
    »Keine Ahnung. Wir können es nur herausfinden, wenn wir tiefer hinabsteigen.«
    Schließlich gab die Treppe den Blick auf einen großen Raum von beträchtlicher Höhe frei. Die Geräusche waren nun deutlicher zu vernehmen, sie wurden hier sogar noch durch Echos verstärkt. Und es gesellte sich noch ein beängstigendes Zischen hinzu, das an manchen Stellen zu einem dumpfen Pfeifen wurde.
    An den Wänden der Höhle taten sich verschiedene Mauernischen auf, und auf dem Boden erhob sich in einiger Entfernung ein steinerner Altar. Und da sahen sie ihn: den glänzenden Götzen in Menschengestalt. Um seinen Kopf herum erstreckte sich, wie ein Konkavspiegel, ein fächerförmiger Teller, in dem sich die einfallenden Sonnenstrahlen bündelten und widerspiegelten, sodass das Bildnis etwas Unwirkliches bekam, als entspränge es selbst dem Licht.
    »Der Punchao!«, rief Umina überwältigt.
    »Ich hätte nie gedacht, dass ich ihn je zu Gesicht bekommen würde«, flüsterte Sebastián andächtig.
    Dort stand es, jenes göttliche Abbild der aufgehenden, wiedergeborenen Sonne, Zeuge einer jeden Sonnwende und Garant für die Rückkehr des Gestirns, jener Schrein, der die Asche der Herzen all seiner Söhne enthielt, jener Inkas, die ihm
Tahuantinsuyu
, ihr Reich der Vier Himmelsrichtungen, geweiht und über das sie in seinem Namen geherrscht hatten.
    Doch der Punchao war nicht allein. Und er schien auch nicht wehrlos zu sein. Vor ihm lagen mehrere menschliche Skelette über den Boden verstreut. Da begriffen sie, dass die Indios sie auf die letzte Probe stellten.
    »Woran sind sie gestorben?«, fragte Umina.
    »Hm   …« Sebastián beugte sich über die Knochen. »Sie weisen |450| keine Quetschungen und auch keine Spuren von Pfeilen oder anderen Waffen auf. Diese Bedrohung ist schlimmer als Carvajal. Ein unsichtbarer Feind.«
    »Und riechst du das auch?«
    Der Geruch war so stechend, dass er ihre Sinne zu betäuben drohte. Und das geheimnisvolle, rhythmische Rasseln wandelte sich in ein aufgeregtes Klackern über ihren Köpfen, dem bald darauf wildes Schreien und hässliches Quieken folgten.
    Als sie ihre Fackeln hoben, bot sich ihnen ein äußerst verwirrendes Schauspiel. An den Felswänden hingen kleine, unförmige Päckchen, in denen ein paar stecknadelgroßen Punkte aufblitzten, wenn das Licht auf sie fiel.
    »Was zum Teufel ist das?«, flüsterte Sebastián.
    »Fledermäuse«, erwiderte Umina.
    Und in der Tat: Hunderte von Fledermäusen hingen in unheilvollen Trauben von der Decke.
    Umina fiel es zuerst ein. »Erinnerst du dich an Diego de Acuñas Chronik? Daran, dass Sírax für Túpac Amaru ein Festgewand webte?«
    »Ja. Als Diego de Acuña sie in der Zisterne überraschte.«
    »Sie webte es aus Fledermaushaar.«
    »Und du meinst, das stammte von hier?«, fragte Sebastián ungläubig.
    »Woher sonst?«
    Ihr Flügelschlag wurde nun lauter, vielleicht bereitete sich

Weitere Kostenlose Bücher