Quipu
seine Anschrift waren die wichtigsten Fährten, die er hatte.
Es war frisch. Doch die Kälte störte Sebastián weniger als der Nebel und die Feuchtigkeit, die über der Stadt lagen. Die Sonne |260| schien in ein Leichentuch gehüllt zu sein, und der feine Sprühregen hatte ihn bald bis auf die Haut durchnässt. Selbst das Glockengeläut klang dumpf, als entspränge es tiefem Morast.
Es war einfach, sich in den Straßen Limas zurechtzufinden, da sie breit und schnurgerade waren. Die zivilen Gebäude hatten wenig Beeindruckendes an sich. Von außen überraschten einzig die übergroßen, prächtigen Holzbalkone, hinter denen dann und wann ein Paar weiblicher Augen aufblitzte, die ihn unverfroren musterten.
In der Mitte der Plaza de Armas erhob sich ein alter bronzener Brunnen, um den Wasserträger mit ihren Eseln, Packsatteln und Fässchen lagerten. Ein paar Barbiere mühten sich mit ihrer Kundschaft ab und besuchten zwischendurch die lärmenden Kolonialwarenläden, wo die neuesten Nachrichten gehandelt wurden.
Sebastián war überrascht über das eigentümliche Spanisch, das gesprochen wurde. Es klang, als sprächen durch diese Menschen seine Vorfahren zu ihm. Nicht weniger auffällig war die Vermischung der Völker. Die Hautfarben reichten in allen erdenklichen Abstufungen vom Weiß der spanischen Neuankömmlinge über den dunkleren Ton der echten
criollos
bis hin zum Kupferton der Indios und dem Schwarz der afrikanischen Sklaven. Und aus all diesen Völkern und Mischungen ragten Limas Frauen heraus. Nichts kam ihrer Ungezwungenheit, ihrer Lebendigkeit und der grazilen Anmut ihres Ganges gleich, die von ihren Schuhen aus makellos weißer Atlasseide noch betont wurden. Alles an ihnen verriet reine Lebensfreude, die sie über ihr Lachen oder die flammenden Blicke ausstrahlten, die sie Sebastián zuwarfen. Sie waren hübsch, klug und aufmerksam, und in ihren Antworten flink wie ein Kolibri.
Umina hatte ihn insbesondere vor den verschleierten Frauen gewarnt, die durch ihre nahezu einheitliche Tracht eine vollkommene Anonymität wahrten. Es sei schon vorgekommen, dass sie von ihren eigenen Ehemännern nicht erkannt wurden. Die Frauen würden in Lima alleine auf die Straße gehen, und jeder Durchreisende könne sie ansprechen, ohne dass dies als unhöflich gelte. |261| Es seien oftmals sogar die Verhüllten, die die Initiative ergriffen, insbesondere, wenn ein Fremder ihre Aufmerksamkeit errege.
Genau dies erlebte der Ingenieur nun am eigenen Leib. Er hatte versucht, die umtriebigen Straßenverkäuferinnen zu umgehen, die Biskuits, Maispasteten und Eibischblätter anpriesen, doch vergebens. An einem Blumenstand flüsterte ihm die Verkäuferin vertraulich ins Ohr:
»Señor, kaufen Sie ihr ein paar Ranunkeln, Ananaskirschen oder Nelken.«
»Für wen soll ich das kaufen?«, fragte Sebastián verwundert.
Sie lachte spitzbübisch.
»Sie werden mir doch nicht weismachen wollen, dass Sie sie nicht gesehen haben, Señor …« Und als sie seinen überraschten Blick bemerkte, zeigte sie verstohlen hinter ihn. »Die Verschleierte dort neben der Säule. Kaufen Sie ihr ein paar Blumen, und sie wird Ihnen noch mehr zuneigt sein.«
Sebastián ließ die Blumenhändlerin stehen. Aber er selbst hatte bereits das Gefühl gehabt, dass die Verschleierte auf höchst eindringliche Weise seinen Blick suchte. Und nun bestätigte ihm dieses Blumenmädchen, dass die Verhüllte etwas von ihm wollte. Er trieb sich noch ein wenig auf dem Platz herum und merkte, dass es tatsächlich so war. Die Frau stellte sich ihm wie zufällig in den Weg, offenbarte ein so lebhaftes Interesse und zeigte derart einschmeichelnde Gesten, dass er sich die Dringlichkeit seiner Mission wieder in Erinnerung rufen musste.
Die auf dem Briefumschlag seines Onkels verzeichnete Anschrift befand sich in der Nähe der Kathedrale am Ende einer Sackgasse. Er fand die Türen des Hauses fest verriegelt vor. Energisch betätigte er den Türklopfer.
Erst nach einer Weile vernahm er drinnen Schritte. Doch wurde nicht die massive Tür geöffnet, sondern ein kleines, vergittertes Guckloch auf Augenhöhe.
»Was wünschen Sie, Señor?«, fragte die Frau, die wie eine Dienerin aussah.
|262| »Ich möchte zu Gil de Ondegardo.«
Die Frau sah ihn verwundert an, ehe sie trocken antwortete: »Señor Gil de Ondegardo ist verstorben.«
Sebastián war wie versteinert. »Wann?« »Vor ungefähr einem Jahr«, antwortete sie und schickte sich an, das Guckloch zu schließen.
Der
Weitere Kostenlose Bücher