Quipu
Ingenieur schob seine Hand vor die Klappe, damit sie sie ihm nicht vor der Nase zuschlug.
»Und ich habe einen Brief für seine Mutter.«
»Die ist auch tot«, erwiderte die Bedienstete, ohne zu zögern.
»Aber … das ist unmöglich!«, stammelte der Ingenieur.
In diesem Augenblick erklang von drinnen eine gebieterische Frauenstimme, die sich erkundigte, mit wem die Dienerin spreche. Erschrocken schloss sie geschwind das Guckloch.
Da begann der Ingenieur laut zu rufen und erneut energisch den Türklopfer zu betätigen.
Seine Schreie schienen jedoch lediglich auf der Straße Wirkung zu zeigen,wo sie fünf Männer auf den Plan riefen. In dem gespenstischen Morgennebel waren sie nur schwer zu erkennen, doch ihr Anblick war keineswegs vertrauenerweckend. Wieder bearbeitete Sebastián heftig die Tür, während die fünf Männer langsam auf ihn zukamen. Instinktiv griff er zu seinem Gürtel, musste jedoch erkennen, dass er nicht einmal einen Dolch bei sich hatte.
Da wurde ihm endlich geöffnet. Doch war es nicht die Dienerin, sondern ein kräftig gebauter Mann mit einem Knüppel in der Hand. Schnell streckte Sebastián ihm den Brief entgegen. »Hier! Ich komme aus Spanien.«
Der Mann nahm ihn wortlos entgegen und schlug die Tür wieder zu. Unruhig blickte Sebastián zurück auf die Straße und sah, dass die fünf Männer stehen geblieben waren und abzuwarten schienen, was geschah.
Nach ein paar Minuten kam zum Glück die Dienerin zurück, um ihn zu ihrer Herrin zu führen.
Deren Zimmer war in Halbdunkel getaucht. Sie saß auf einem Sofa, eine frühzeitig gealterte Frau. Der Schmerz hatte tiefe Spuren |263| des Leids in ihrem Gesicht hinterlassen, sodass diese selbst bei gedämpftem Licht sofort ins Auge sprangen. Dennoch war sie, nach allem, was sein Onkel Álvaro ihm erzählt hatte, zu jung, um die Mutter des Archivars zu sein. Doch wenn die Mutter von Gil de Ondegardo verstorben war, wie die Dienerin ihm mitgeteilt hatte, wer war dann diese Frau?
Er setzte sich auf den Stuhl, den sie ihm wies, und wartete schweigend ab.
»Sind Sie mit Álvaro de Fonseca verwandt?«
»Er war mein Onkel.«
»War?«
»Er ist vor drei Monaten verstorben.«
Die Frau schlug die Hände vors Gesicht. »Wie schrecklich!«
Sebastián spürte, wie sie darum rang, vor ihm, dem Fremden, Fassung und Würde zu wahren.
»Verzeihen Sie, Señora«, fragte er schließlich vorsichtig, »aber wie sind Sie mit Gil de Ondegardo verwandt?«
»Ich bin seine Witwe.«
»Seine Witwe?«
»Wussten Sie nicht, dass er verheiratet war? Er hat mich geehelicht, als er aus der Gemeinschaft Jesu austrat.«
Da Sebastián nichts darauf erwiderte, fragte sie ihn: »Kennen Sie den Inhalt dieses Briefes?«
»Nein, natürlich nicht.«
Sie reichte ihm das Schriftstück. »Lesen Sie selbst. Ich habe nicht die Kraft, Ihnen das zu erzählen. Zumal Sie mir sowieso nicht glauben würden.«
Sebastián trat damit ans Fenster. Je weiter er durch diese zittrigen Zeilen vordrang, umso besser verstand er das Verhalten dieser Frau.
Der unglückselige Brief ließ keinen Zweifel daran, dass Álvaro de Fonseca weder von Gil de Ondegardos Tod noch von seiner Heirat gewusst hatte.
Dieses Schreiben enthüllte,dass Álvaro de Fonseca und der Ehemann dieser Frau ein Liebespaar gewesen waren: Der verzweifelte |264| Álvaro warnte seinen Gil vor der Gefahr,in der er sich befand,und brachte seine Gefühle für den Geliebten zum Ausdruck.
Da verstand der Ingenieur, weshalb sein Vater so viel Geld für die Rettung seines Bruders hatte zahlen müssen. Dadurch hatte er sich das Stillschweigen gewisser Leute erkauft, damit diese Sache, die gewiss einen ungeheuren Skandal verursacht hätte, in Vergessenheit geriet. Vielleicht war diese verbotene Beziehung ja letztlich der Grund gewesen, weshalb Ondegardo nach der Rückkehr seines Onkels nach Spanien aus dem Orden ausgetreten war.
Sebastián suchte nach Worten, als er der Frau den Brief zurückgab. Was sollte er ihr sagen? Er dachte an Álvaro. Daran, was dieser in seinem Versteck im Palast der Fonsecas wohl durchgemacht hatte, als er erfahren musste, wie die Schlinge um Gils Hals immer enger wurde, bis ihre Feinde seinem Geliebten schließlich auf die Spur kamen. Und er fragte sich erneut, was für Familiengeheimnisse ihn noch erwarteten.
Unter Schluchzen gestand María de Ondegardo ihm nun, dass ihr Mann sich hätte retten können, wenn sie nicht Álvaros Briefe abgefangen hätte. Denn in der letzten Zeit sei sie
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