Quo Vadis
lagen.
Vinicius fürchtete schon, seine List würde erfolglos sein, als sein Arbeitgeber ihm zu Hilfe kam.
„Die Toten müssen sofort hinaus. Durch die Leichen kann sich die Seuche ausbreiten. Entweder ihr schafft sie fort, oder ihr sterbt hier mit den Gefangenen.“
„Wir sind bloß unser zehn und müssen auch einmal schlafen“, fiel der Kerkermeister ein.
„Ich will vier meiner Leute hierlassen, die während der Nacht umhergehen und nach Leichen suchen sollen.“
„Wir wollen morgen mit dir trinken, wenn du das tust. Jeder muß untersucht werden; denn wir haben Befehl, jeder Leiche den Hals zu durchstechen und sie sofort in die Gruben zu schaffen.“
„Gut, gut. Wir werden miteinander trinken“, erwiderte der Aufseher.
Vier Männer, darunter Vinicius, wurden ausgewählt; die anderen hatten die Leichen auf die Bahren zu schaffen.
Vinicius war beruhigt, denn nun mußte er Lygia finden. Zuerst durchsuchte er sorgfältig den ersten Keller; in jedem Winkel, den seine Fackel ihm zeigte, forschte er nach ihr, er prüfte die Gesichter, die unter rauhen Mänteln schliefen, er entdeckte, daß die am schwersten Erkrankten in eine besondere Ecke verbracht waren. Doch Lygia fand er nirgends; auch im zweiten und dritten Keller nicht.
Inzwischen war es späte Nacht geworden; sämtliche Leichen hatte man hinausgetragen. Die Wächter verteilten sich in die Zwischengänge und schliefen, die vom Weinen müde gewordenen Kinder waren still; nichts ließ sich hören als schwere Atemzüge und da und dort ein leise gemurmeltes Gebet.
Vinicius betrat nunmehr den vierten, bedeutend kleineren Keller. Mit der Fackel vor sich hin leuchtend, spähte er umher und begann plötzlich zu zittern; denn er glaubte an einer vergitterten Maueröffnung die Hünengestalt des Ursus zu sehen. Die Fackel ausblasend, trat er näher und fragte:
„Ursus, bist du hier?“
„Wer bist du?“ antwortete der Hüne.
„Kennst du mich nicht?“
„Du hast die Fackel ausgelöscht; wie soll ich dich erkennen?“
In diesem Augenblick sah Vinicius Lygia an der Wand auf einem Mantel liegen; ohne ein Wort zu erwidern, kniete er neben ihr nieder. Ursus erkannte ihn jetzt und rief:
„Gepriesen sei der Herr! Doch wecke sie nicht auf!“
Vinicius blickte auf sie durch seine Tränen hindurch. Trotz der Dunkelheit vermochte er ihr Antlitz, das so weiß wie Alabaster war, und ihre abgemagerten Arme zu unterscheiden. Bei diesem Anblick fühlte er eine Liebe, die seine Seele bis in die tiefsten Tiefen erschütterte und zugleich so voll Mitleid und Ehrfurcht war, daß er niederkniete und seine Lippen auf den Saum des Mantels drückte, auf dem sein Teuerstes auf Erden ruhte.
Ursus schaute ihm lange schweigend zu; endlich zog er ihn an der Tunika.
„Herr“, fragte er, „wie kamst du hierher? Willst du sie retten?“
Vinicius erhob sich und kämpfte seine Rührung nieder.
„Zeige mir, wie?“ erwiderte der Tribun.
„Ich dachte, du würdest Wege finden, Herr. Nur ein Mittel fiel mir ein …“
Dabei kehrte er sich gegen das Gitter in der Mauer und sage:
„Hier durch. Aber es stehen Soldaten draußen …“
„Hundert Prätorianer.“
„So kommen wir nicht durch?“
„Nein.“
Der Lygier rieb sich die Stirn und fragte abermals:
„Wie kamst du herein?“
„Ich habe eine Tessera vom Aufseher der Kloaken.“
Plötzlich hielt er inne, als ob ihm ein Gedanke gekommen sei.
„Beim Leidensweg des Erlösers!“ begann er. „Ich bleibe hier. Sie soll meine Tessera nehmen, ihr Haupt in ein Tuch hüllen, einen Mantel über die Schulter ziehen und sich hindurchschleichen. Unter den Leichenträgern befinden sich mehrere halbwüchsige Knaben, so daß ihre Gestalt den Prätorianern nicht auffallen wird. Einmal in Petronius’ Haus, ist sie gerettet.“
Doch der Lygier ließ den Kopf auf die Brust herabsinken und sagte:
„Sie würde nicht einwilligen, weil sie dich liebt. Auch ist sie krank und kann nicht allein auf den Füßen stehen. Wenn du und Petronius sie nicht aus dem Kerker zu befreien vermögt, wer kann es dann?“
„Christus allein.“
Beide schwiegen.
„Christus könnte alle Christen retten“, dachte der Lygier in seinem einfältigen Herzen; „da er sie aber nicht rettet, so ist es sicher, daß die Stunde der Marter und des Todes gekommen ist.“
Er ergab sich darein, soweit es ihn betraf; doch seine Seele war tief traurig um jenes Kindes willen, das in seinen Armen aufgewachsen war, das er mehr liebte als sein eigenes
Weitere Kostenlose Bücher