Raban, der Held
jeden Fall hab ich mir dieselben Fragen gestellt. Dieselben Fragen, die dich jetzt so unglücklich machen.“
Ich schnappte nach Luft. So lange hatte ich nicht mehr geatmet. Willi, der beste Trainer der Welt, hatte dieselben Probleme wie ich? Das schien mir völlig unmöglich zu sein. Doch wenn ich dieses ,unmöglich’ vergaß, machte es mir genauso viel Mut.
„Okay! Erzähl weiter!“, räusperte ich mich, und Willi nickte wieder zufrieden.
„Ich hatte damals nur ein einziges Ziel. Ich wollte der beste Fußballspieler werden, den es auf der Welt gab. Besser als heute Figo, Zidane und Ronaldo zusammen. Doch die Wirklichkeit war leider ganz anders. Der Vater vom Dicken Michi hatte mein Knie ruiniert. Ich hinkte wie der Glöckner von Notre Dame. Ich war verzweifelt, denn die einzige Chance, die mir blieb, war Balljunge im Minigolfclub von Großdingarting zu werden. Da lud mich mein Trainer ein. Zu sich nach Haus. Und so wie du jetzt hier sitzt, saß ich damals vor ihm. Und dann verriet er mir das größte Geheimnis, das es für einen Jungen in der Fußballwelt gibt.“
Jetzt wurde es zum Zerreißen spannend. Ich hatte kein kaputtes Knie. Ich hatte nur keinen richtigen ‚falschen’ Fuß, und Willi fasste mich bei der Hand und sah mir durch die Augen direkt in die Seele hinein.
„Alle 24 Jahre, wenn man das Glück hat und einen Tag vor Weihnachten, also mitten im Winter, Glühwürmchen glühen, dann tritt das Fußballorakel zusammen. In der Silvesternacht, im alten 60er Stadion an der Grünwalder Straße flammt um kurz nach Mitternacht die Flutlichtanlage auf, und dann erscheinen sie: die Geister der großen deutschen Fußball-Legenden. Sie spielen mit dir, und nach diesem alles entscheidenden Match sagen sie dir, ob du es schaffst.“
„Ob du was schaffst?“, fragte ich hypnotisiert.
„Ob du es schaffst, ein Fußballprofi zu werden“, antwortete Willi, machte eine Pause und fügte dann noch hinzu. „Oder ob du vielleicht eine andere Aufgabe hast.“
„Und?“, wollte ich wissen. „Was haben sie dir gesagt? Wie fiel ihr Spruch aus?“
„Ich war nicht gut genug!“, antwortete Willi und schloss seine Augen, als hätte man ihn gerade erst zum Tode verurteilt.
„Ich war nicht gut genug! Das sagten sie mir, als wünschten sie mir für mein weiteres Leben viel Glück. Ich war vollkommen sauer. Das kannst du dir bestimmt denken. Doch dann gaben sie mir diesen Ball. Den Ball, der jetzt so oll und unscheinbar ist, und raunten mir zu, dass ich eine andere Lebensaufgabe hätte. Ich müsste nur warten. Irgendwann fände ich sie schon heraus.“
Willi lachte. Doch er lachte durch einen Schleier von Tränen hindurch.
„Und ich hab sie gefunden. Ich hab sie gefunden, als ihr zu mir kamt. Als ich euer Trainer wurde, Raban! Der Trainer der besten Fußballmannschaft der Welt.“
Willi schaute mich an. Dann trank er noch eine Tasse, und spätestens jetzt konnte ich riechen, dass sein Glühwein nicht vom DFB kam.
„Verstehst du mich, Raban?“, nuschelte er und fasste mich bei der Hand. „Jetzt hast du diese Chance. Die Chance, die es nur alle 24 Jahre für einen Jungen, der Fußball liebt, gibt.“
Willis Augen leuchteten vor Begeisterung, und sie leuchteten immer noch, als ich vor dem Wohnwagen stand, um mich zu verabschieden. Draußen war es längst dunkel geworden. Der Sturm pfiff durch die Bretter des Holzzauns hindurch, fuhr in die Plastikrodelschüssel auf meinem Rücken und warf mich fast um.
„Ich weiß nicht“, druckste ich rum und zappelte auf der Stelle. „Das klingt ziemlich erfunden, Willi, findest du nicht?“
Doch Willi schwieg.
„Und selbst, wenn es wahr wäre. Wie sollte ich etwas ändern?“, ließ ich den letzten Strohhalm nicht los. „Die andern lachen mich aus. Für die bin ich Raban, der Clown. Der Spinner. Die würden nie auf mich hören.“
„Ja, und?“, widersprach Willi. „Wenn man wirklich an was ganz Großes glaubt, muss man mit dem Spott der anderen rechnen.“
„Und wenn man das aber nicht kann?“, widersprach ich.
„Dann wird es die Wilden Fußballkerle bald nicht mehr geben. Oder glaubst du, dass ich nur dich eingeladen habe? Nein, jeder hat einen Brief gekriegt. Selbst Rocce, der Zauberer, und Deniz am anderen Ende der Stadt. Doch die haben sich nicht getraut. Die haben sich alle längst aufgegeben.“
Ich stand da im Dunkeln. Meine Coca-Cola-Glas-Brille beschlug und verwandelte die Welt um mich herum in ein türkisches Dampfbad. Der matschige Boden unter
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