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Rabenblut drängt (German Edition)

Rabenblut drängt (German Edition)

Titel: Rabenblut drängt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nikola Hotel
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Liebeserguss. So voller Romantik, dass meine Gesichtszüge weich wurden und sich die Töne süß in mein Herz ergossen. Innerlich spielte ich mit und ließ meine Finger zärtlich über die Tasten gleiten.
    Mir gegenüber saß ein alter Herr, der lächelte und mir fast unbemerkt zunickte.
    Ich wollte aber nicht warten, bis der Orchesterinspizient mich aufrief, und verließ meinen Platz, um zur Bühnentür zu gehen. Ich war sehr gut vorbereitet, und es gab keinen Grund an meinen Fähigkeiten zu zweifeln; trotzdem wusste ich im Voraus, dass sich ein Gefühl der vollkommenen Zufriedenheit nicht einstellen würde.
    Der Pianist nahm seinen Applaus entgegen und verließ den Saal. Die Tür schloss sich wieder. Der Dirigent warf mir einen aufmunternden Blick zu, jemand rief »Toi toi toi« und der Inspizient öffnete mir die Tür.  
    Innerlich wappnete ich mich dagegen, was jetzt zwangsläufig passieren würde. Doch dieser Auftritt fand schließlich nur aus einem einzigen Grund statt: um Aufsehen zu erregen.
    Ich holte tief Luft und betrat das Podium.
    Das Orchester war aufgestanden und der Applaus aus dem Publikum begrüßte mich. Noch bevor ich dem Konzertmeister die Hand reichte, brach das Klatschen ab und gedämpftes Getuschel begann.
    Papiere raschelten.
    Die Zuschauer zog die Programmhefte heraus, um sich zu vergewissern, wen sie da sahen. Ich hob den Kopf, lächelte und verbeugte mich auch in Richtung der oberen Ränge.
    Die Stimmen wurden lauter. Ich konnte es den Leuten nicht verdenken, sah ich doch meinem Vater so unglaublich ähnlich.
    Ich kontrollierte meinen Sitz, heftete meinen Blick gänzlich auf den Dirigenten und versuchte gleichzeitig alle anderen Eindrücke auszuschalten. Noch immer wollte das Getuschel nicht verstummen, und der Dirigent schlug mit dem Taktstock auf das Pult.
    Dann endlich kehrte Ruhe ein.
    Ich spielte eine Etüde von Chopin, Opus zehn, Nummer drei. Tristesse - Traurigkeit. Ein Gefühl, das ich gut kannte. Es war kein Stück, das meine Technik besonders herausforderte, aber es war eine Herausforderung, was den melodischen Ausdruck und die Atmosphäre betraf. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich darauf, vorsichtig mit der Dynamik zu balancieren. Ich genoss die perfekte Reaktion des Flügels, das Gefühl, mit den Fingern über weichen Samt zu streichen.
    Ich ließ meinen ganzen Körper von der Musik forttragen. Ich sah Bilder in meinem Kopf, die meine Traurigkeit widerspiegelten. Dinge, die einen schmerzhaften Verlust in meinem Herzen spürbar machten.  
    Etwas flüsterte meinen Namen, berührte sanft meine Seele und zog zarte Wasserkreise auf einem See.
    Die Töne wehten wie kleine Fallschirme des Löwenzahns durch den Saal, ließen sich von einer Windböe erfassen und purzelten im unregelmäßigen Rhythmus durcheinander.
    Nicht einmal ein Husten war zu hören, als ich die Variation spielte und zum Schluss das Thema wiederholte. Nach dem letzten Ton war es sekundenlang still, bevor das Publikum heftig applaudierte. Es schien mir, als galt der Jubel allein dem Umstand, dass ich überhaupt hier oben stand, nach so vielen Jahren.
    Das Scheinwerferlicht blendete mich. Trotzdem entdeckte ich den General oben auf dem Balkon. Selbst auf die Entfernung konnte ich sehen, dass ihre Augen verräterisch glitzerten. Und ich war mir sicher, dass die Wahl dieses Stücks ihr gefallen würde. Ich lächelte, bevor ich mich wieder setzte.
    Jetzt kam der aufsehenerregende Teil: Die Revolutionsetüde. Ich fand sie äußerst passend für den Zweck, den dieser Auftritt erfüllen sollte.
    Der Anfang forderte meine ganze Konzentration. Ich spielte die heroische Melodie in der rechten Hand über einer sehr anspruchsvollen Sechzehntelbewegung in der linken. Es war dramatisch und aufwühlend und schwemmte mir das Blut heiß durch den ganzen Körper. Auch der Zuhörer in der letzten Reihe musste diese Intensität spüren können. Der Bass grollte, und durch die Kraft des Anschlags flogen meine Hände in die Höhe.
    Stille.
    Ich hielt den Atem an.
    Plötzlich ein einzelner Ruf. »Danke!«
    Sofort klatschte das Publikum stürmisch. Ganze Reihen erhoben sich begeistert, Bravorufe schallten mir entgegen. Wie gern wäre ich jetzt auf dem schnellsten Weg abgetreten, aber es wäre dem Publikum gegenüber sehr unhöflich gewesen. Ich verbeugte mich mehrmals, ein dankbares Lächeln auf den Lippen.
    Doch gerade, als ich die Bühne verlassen wollte, bestieg eine Frauengestalt in einem auffällig roten Kleid das

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