Rabenblut drängt (German Edition)
Podium.
Ich erstarrte.
Eindrücke aus der Vergangenheit überschwemmten mich: Es war Nathalie, die plötzlich auf mich zutrat und mir mit einer theatralischen Geste einen Blumenstrauß überreichte.
Sie lächelte mit rotgeschminkten Lippen. Weiße Zähne blitzten in dem ebenmäßigen Gesicht. Sie hatte sich überhaupt nicht verändert, und ich konnte nicht verhindern, dass mein Lächeln einfror. Meine Hände griffen nach dem Strauß und krallten sich unwillkürlich daran fest, obwohl das Bedürfnis ihn von mir zu schleudern, beinahe übermächtig wurde.
Ihre Lippen bewegten sich, wahrscheinlich zu einer Gratulation, aber ich verstand sie nicht. Das Einzige, was ich hörte, war ihre Stimme von damals:
Du bist ein ekelhaftes Monstrum! Ein widerliches, abartiges Getier - eine Missgeburt!
Wappentier
D as ist wunderschön!«, raunte Lara mir zu. »Und so romantisch!« Sie seufzte. Timo verdrehte die Augen. Romantik war etwas, dass ihm völlig abging.
Ich war so gefangengenommen, dass ich ein starkes Gefühl des Bedauerns verspürte, als das Stück zu Ende war und alle applaudierten. Erst nach mehreren Verbeugungen verließ der Pianist die Bühne.
Ob Alexej hier irgendwo gesessen und zugehört hatte? Oder ob er sich hinter der Bühne aufhielt? Oder hatten mir meine Sinne wieder nur einen Streich gespielt? Es war nicht viel mehr als ein Schatten gewesen, aber nur eine Bewegung hatte genügt, mein Herz plötzlich laut pochen zu lassen.
»Ist jetzt schon Pause?«, fragte ich Lara. Im selben Moment meinte ich, einen kräftigen Schlag abzubekommen. Ein Mann in einem rabenschwarzen Anzug trat auf die Bühne. Er bewegte sich zielstrebig, ohne den kleinsten Anflug der Nervosität. Ich spürte förmlich, wie sich die Luft auflud. Ein Raunen war zu hören, Papier raschelte. Der Mann wandte sich dem Publikumsraum mit einem beinahe neutralen Blick zu. Und in dem Moment, als er das Publikum ansah, erhellten sich seine Züge, als hätte er nur auf diesen einen Augenblick gewartet.
Er lächelte.
Ich krallte mich an Laras Arm fest und gab unartikulierte Laute von mir.
»Was ist denn?«, fragte Lara. »Ist dir nicht gut?« Sie sah mein verstörtes Gesicht und folgte meinem Blick, um die Ursache dafür zu entdecken. Dann stieß sie einen spitzen Schrei aus.
»Oh mein Gott, es ist Alexej!«, quietschte sie.
Timo beugte sich ebenfalls vor. »Das ist er? Aber wieso -?«
»Pssst!«, zischte jemand hinter uns.
Oh Himmel!
Neben mir fing auch Lara an zu rascheln und wedelte hektisch mit den Zetteln vor ihrer Nase.
»Sie haben das Programm geändert. Hier, schau!«
Ich riss ihr den Bogen aus der Hand und suchte nach dem Programmpunkt, der jetzt an der Reihe war. Ich las die kleingedruckten Worte › Special Guest ‹ und daneben einen Namen, der das Blut in meinen Ohren zum Rauschen brachte:
Alexander von Steinberg.
»Aber -« ich brachte kein Wort mehr heraus. War das etwa sein Name? Ich war verwirrt. Er selbst nannte sich Alexej. Nikolaus hatte Alexander zu ihm gesagt, und der Brief aus dem Krankenhaus war an Alexej Nepovím adressiert gewesen. Und jetzt las ich hier Alexander von Steinberg?
Es wurde getuschelt. Man verrenkte sich den Hals, um einen Blick auf den Pianisten zu werfen. Ich hielt Lara mit zitternden Fingern den Zettel vor die Nase und sie überflog die Seite.
»Ich kenne ihn!«, rief sie aus.
»Was soll das heißen, du kennst ihn? Natürlich kennst du ihn!« Ich war nahe daran, einen hysterischen Anfall zu bekommen.
Sie lachte albern und ihre Stimme überschlug sich fast.
»Ich meine seinen Namen. Mein Gott, jeder in diesem Land kennt seinen Namen!«
Was sollte das jetzt bedeuten? Jeder in diesem Land? War ich etwa die Einzige hier im Saal, die keinen blassen Schimmer hatte, wer Alexej war?
»Es ist seine Familie! Jeder kennt seine Familie.«
»Ruhe jetzt!«, schimpfte eine Männerstimme. Der Dirigent schlug mit dem Taktstock auf das Pult. Die Stimmen verstummten und ich hielt den Atem an.
Alexej begann zu spielen, und vom ersten Ton an schmolz ich dahin. Er spielte so wehmütig und dabei so unendlich gefühlvoll, dass mein Herz sich schmerzhaft verkrampfte.
Ich kenne dich überhaupt nicht! , durchfuhr es mich. Aber ich liebe dich.
Das Publikum applaudierte heftig. Sie hatten sich von seiner Ausstrahlung fesseln lassen, genau wie ich. Er verstand es, mit einer kleinen Geste oder einem Blick mit dem Publikum so zu kommunizieren, dass sich jeder von ihm angesprochen fühlte.
Auf einmal
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