Rabenblut drängt (German Edition)
Und auf seinem fast kahlen Kopf zeigte sich ein Stachelkleid aus ungeöffneten Federschäften - Anzeichen einer Stockmauser. Vor Mitleid krampfte sich mein Herz zusammen. Wie lange hatte man ihn in diesem Zimmer eingesperrt? Es mussten etliche Tage gewesen sein, in denen er kaum Licht gesehen oder Nahrung zu sich genommen hatte.
Diese Grausamkeit raubte mir schier den Atem.
Jetzt hockte er kraftlos auf einer Kastanie, seine Zehen umkrampften den dünnen Zweig. Er musste dringend aufgepäppelt werden. Ich deutete ihm, sich auszuruhen und segelte hinab, um geeignetes Futter zu finden.
Wir waren in einem weitläufigen Park gelandet. Die Bäume waren sorgfältig gestutzt, die schmalen Wege gekiest und von Blättern befreit. Das war günstig. Denn wo sich Menschen aufhielten, fand sich auch etwas Essbares. Ich flog einen Mülleimer an und pickte mit dem Schnabel einige alte Zeitungen heraus. Zwischen Zigarettenkippen und schmierigen Plastikverpackungen entdeckte ich Reste einer Bratwurst, ranzigen, angetrockneten Käse und in Ketchup eingeweichte Pommes frites. Das alles schaffte ich nacheinander zu Jaro, der es in gieriger Hast hinunterschluckte. Ich sammelte Wasser aus einer Pfütze und flößte es ihm mit meinem Schnabel ein, wie eine Mutter die ihre Jungtiere fütterte.
Er war immer noch furchtbar erschöpft, aber ich war erleichtert, als ein leichter Glanz in seine Augen zurückkehrte.
»Es tut mir leid, dass ich dich zurückgeschickt habe«, krächzte ich und rieb meinen Schnabel entschuldigend an seinem struppigen Gefieder.
»Ich bin wirklich davon überzeugt gewesen, dass es das Richtige wäre.«
Jaro nickte. »Ist ja nicht deine Schuld, was passiert ist. Du bist nicht für mich verantwortlich.«
»Im Gegenteil«, widersprach ich ihm. »Wir tragen für uns alle die Verantwortung - für den Schwarm.«
»Die Musketier-Nummer?«, scherzte er.
Gerade in diesem Moment erinnerte er mich sehr an seinen Bruder. Pavel war auch in den schrecklichsten Augenblicken noch zu Scherzen aufgelegt gewesen.
»Ich habe gedacht, es wäre für dich noch nicht zu spät. Dass du deine Verwandlung mit ein bisschen Übung in den Griff bekommen würdest. Aber das war dumm von mir. Ich hätte wissen müssen, dass es nicht funktioniert, dass man die Natur nicht einfach aufhalten kann. Aber ich hatte gehofft, dass du eine Chance hast.«
»Was für eine Chance denn? Findest du es denn so schlimm ein Rabe zu sein? Ich dachte, dass gerade das eine echte Chance ist. Ich kann mir doch das Beste aus meinen beiden Leben herauspicken, oder nicht?«
»Ein schöner Gedanke. So habe ich das nie gesehen. Für mich war es immer ein Hemmschuh - eine Behinderung. Wie willst du leben, wenn du in kein Leben wirklich hineinpasst?«
Er schaute mich verständnislos an und ich hatte das Gefühl, mich weiter erklären zu müssen.
»In Wirklichkeit sind wir weder das Eine noch das Andere - niemals ganz. Ich wollte nur ein normales Leben führen, ohne politische Verfolgung oder Diktatur, wie unsere Eltern und Großeltern sie erleben mussten. Ich wollte Pianist werden, heiraten und eine Handvoll Kinder bekommen. Weiter nichts.«
»Und das kannst du nicht?«
»Nein.«
»Aber das verstehe ich nicht. Ich dachte, wenn man älter wird, kann man das alles besser kontrollieren. Ich meine, es muss ja niemand wissen, dass ich ein Rabe bin. Warum sollte ich nicht beides haben können?«
»Weil es nicht harmoniert. Als Vogel willst du frei sein, deine Gefühle und Instinkte laufen denen eines Menschen zuwider. Und außerdem ist es eine Illusion, zu glauben, du könntest so etwas Elementares verheimlichen. Und irgendwann«, ich seufzte, »irgendwann willst du es auch nicht mehr verheimlichen.«
»Dann suche ich mir eben die Leute, denen ich es nicht verheimlichen muss, die mich so nehmen, wie ich bin.«
Aus ihm sprach so sehr der Teenager, dass ich schmunzeln musste.
»Wann hast du dich denn verwandelt? Das erste Mal, meine ich.« Jaro hob neugierig den Kopf.
»Vor einer Ewigkeit.« Ich zupfte an meinem Flügel. »Ich war neunzehn und seit zwei Jahren auf dem Konservatorium. Ich wusste nicht, was mich erwartet.«
»Und du hast dich direkt dafür entschieden als Rabe zu leben?«
»Ganz im Gegenteil.«
»Aber -«
»Ich hatte nie die Möglichkeit mich darauf einzustellen«, unterbrach ich ihn. »Ich war gut in meinem Studium, hatte die ersten erfolgversprechenden Auftritte und war frisch verliebt.«
»Und dann?«
»Dann habe ich versucht, diesen
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