Rabenblut drängt (German Edition)
Jaro und ich durch das zerstörte Fenster nach draußen.
Luftgespinst
D irekt vor mir sah ich die Rabenvögel in der Krone einer Lärche sitzen. Die Vögel flatterten umher, ordneten sich neu und ließen sich an anderer Stelle wieder nieder. Ich sah ihre hellgraugefärbten Hälse und Bäuche, die sie wie mit einem Pullunder einkleideten, und die Enttäuschung zog mir den Boden unter den Füßen weg.
Ganz gewöhnliche Nebelkrähen!
Es war also völlig sinnlos gewesen, hinter diesem Krächzen herzulaufen. Und dumm außerdem, denn ihre Stimmen hörten sich so ganz anders an, als die der Kolkraben. Wie hatte ich das nur überhören können?
Ich wusste nicht einmal genau, welche Richtung ich eingeschlagen hatte und war einfach blindlings losgelaufen.
Himmel, war mir schlecht! In meinem Kopf drehte gerade ein Karussell seine Runden und der Kakao schwappte mir sauer bis in die Kehle. Taumelnd hangelte ich mich von einem Baumstamm zum nächsten. Dann musste ich feststellen, dass ich den Trampelpfad aus den Augen verloren hatte. Ich schaute mich hilflos um. Wie spät war es wohl? Sicher hatte Lara längst nach mir gesehen und festgestellt, dass ich mich nicht in meinem Bett befand. Hoffentlich machte sie sich keine Sorgen.
Blödsinn!
Hoffentlich machte sie sich Sorgen! Ich musste mir eingestehen, dass ich überhaupt keine Ahnung hatte, wo ich mich gerade befand. Ich suchte an den Bäumen nach einem Anhaltspunkt. Irgendeine markante Stelle musste es doch geben: eine massive Baumruine oder ein besonders imposantes Gewächs - irgendetwas, das mir bekannt vorkam. Aber entweder war ich im Moment überhaupt nicht aufnahmefähig, oder ich war tatsächlich noch viel tiefer in den Wald gelaufen, als vermutet. Ich lauschte, ob nicht irgendwo ein Bachlauf zu hören war, aber in meinen Ohren dröhnte es nur dumpf.
In was für einem Wald war ich überhaupt? Was für Bäume standen hier? Ich kniff die Augen zusammen und fokussierte die Rinde direkt vor mir, aber es war nur eine graubraune Masse. Ich tastete mich mit den Händen voran und fühlte tiefe Furchen. Meine Nase lief und meine Augen tränten. Erschöpft klappte ich schließlich auf dem Waldboden zusammen.
Was für ein schönes Geräusch! Ich lächelte vor mich hin. Ganz egal was es war, es klang jedenfalls hübsch - wie eine kleine Dampflok. Selig hielt ich die Augen geschlossen. Als Kind hatte ich solche Geräusche ausgestoßen, wenn ich mit meinem jüngeren Bruder Eisenbahn gespielt hatte. Timo, wie macht die Lokomotive? Schnauf, schnauf, schnauf. Genau dieses Geräusch hörte ich gerade. Ein niedliches Schnüffeln begleitet von einem kurzen Grunzen. Feucht kitzelte es an meinem Ohr.
Dann plötzlich ein Knacksen. Das Kitzeln hörte auf, und ich war enttäuscht, weil das Geräusch, das so schöne Erinnerungen in mir geweckt hatte, ebenso verschwand.
»Du meine Güte!«, stieß eine mir bekannte Stimme aus, wenn ich auch gerade nicht sagen konnte, zu wem sie gehörte.
»Isa! Oh Gott, alles in Ordnung mit dir?«
Klar, mir geht’s prima! Ich wollte die Augen öffnen, um zu sehen, wer diese dämliche Frage gestellt hatte, aber meine Wimpern hafteten zusammen wie ein Klettverschluss. Ich hatte einen schönen Traum gehabt und fühlte mich wunderbar. Allerdings stellte ich gerade fest, dass ich meine Arme und Beine überhaupt nicht bewegen konnte. Das war weniger wunderbar.
»Bist du verletzt? Hallo! Hörst du mich überhaupt?«
Jetzt war ich mir sicher, dass es eine Männerstimme war, eine nervende Männerstimme. Warum konnte diese Stimme mich nicht einfach weiter träumen lassen? Ich schluckte und verzog dann schmerzhaft das Gesicht, weil es sich anfühlte, als bestünde meine Spucke aus irgendeiner beißenden Flüssigkeit, die meine Speiseröhre verätzte.
»Du bist ja völlig weggetreten! So eine Scheiße!«
Etwas Kaltes klatschte in mein Gesicht. Ich versuchte den Arm zu heben, um es abzuwehren. »Nicht - weg!«, stöhnte ich.
»Na endlich! Sag mal, spinnst du jetzt völlig? Du kannst doch hier kein Nickerchen machen! Weißt du eigentlich, wie spät es ist? Lara springt schon im Dreieck, weil du seit drei Stunden wie vom Erdboden verschluckt bist!«
Hände zerrten an mir und ich stöhnte und jammerte nur noch lauter.
»Was machst du überhaupt hier? Lara hat dir doch gesagt du sollst im Bett bleiben!«
Marek! Es war Marek! Aber warum schimpfte er nur so und zerrte an mir herum? Konnte er mich nicht einfach mal in Ruhe
Weitere Kostenlose Bücher