Rabenbrüder
Annette verreisen wollte? Sie hat dir ja fast gar nichts Eßbares hinterlassen, macht sie das immer so?«
»Nein«, sagte Paul und mußte erneut gegen einen unterschwelligen Verdacht ankämpfen. Fast schien es so, als hätte die praktische Annette alle verderblichen Lebensmittel aufgebraucht, weil sie mit seiner Abwesenheit gerechnet hatte.
Im Keller stehe der alte Kühlschrank seiner Schwiegereltern, der für die Quarkvorräte reserviert sei, rief Paul, unter Umständen sei dort noch etwas zu finden.
Achim blieb lange weg. Als er wieder oben war, zählte er mit einem gewissen Respekt die vielfältigen Milchprodukte auf, die er entdeckt hatte: Diät, Magerstufe, fett-arm, Rahmquark mit Cranberry-Kirsch oder KiwiStachelbeere, Joghurt mit Dörrobst und Vollkorn oder Nougat-Mandel, Honig-Crunch, alla frutta und so weiter.
Paul unterbrach Achims Litanei und meinte, von diesem Zeug sei stets genug im Haus, aber man könne ihn damit jagen.
Schon recht, sagte sein Bruder, dann fahre er rasch zum Supermarkt.
Als Achim das Haus verlassen hatte, humpelte Paul eilig ans Fenster, denn er wollte das Auto seines Bruders begutachten. Es war kein Toyota, wie er erwartet hatte, sondern der ehemalige Wagen ihrer Mutter. Warum sie den soliden BMW ausgerechnet Achim vermacht hatte, obwohl Paul als der Ältere eine Klapperkiste fuhr, war klar: Sein hochgewachsener Bruder blieb für die Eltern immer das kleine Nesthäkchen, dem sie es vorn und hinten reinsteckten.
Später wurde Paul sehr hungrig, weil ihn köstliche Düfte an Olgas Hexenküche erinnerten. Seit gestern abend hatte er nichts in den Magen bekommen, denn er hatte vorgehabt, einen gepflegten Imbiß in der Harrods-Filiale des Flughafens zu sich zu nehmen.
»Wann bist du endlich fertig?« brüllte er Richtung Küche.
Achim hatte Gnocchi mit grünem Spargel zubereitet, die er mit frisch geriebenem Parmesan bestreute. Danach gab es Kalbsschnitzel nach Bologneser Art mit Salat und schließlich in Rotwein gedünstete Birnen.
Paul war über die Maßen verblüfft. »Wieso bleibst du so dünn, wenn du wie ein Profi kochen kannst? Und warum machst du nicht lieber ein Restaurant auf statt einer Toyota-Filiale?«
Achim wurde fast verlegen. »Endlich kann ich dir mal ein bißchen imponieren«, sagte er. »Meine Freundin stammt aus Locarno, sie hat mir das Kochen beigebracht.«
»Wie lange kennt ihr euch schon?« fragte Paul und hörte verwundert, daß es bereits ein Jahr sein sollte.
Draußen wurde es dunkel. Paul konnte sich nicht besinnen, je zuvor so friedlich und entspannt mit seinem Bruder zusammengesessen zu haben.
»Weißt du noch, wie Mutter uns immer ein Abendlied vorsang, um unseren musikalischen Geschmack zu bilden? Am liebsten war uns Am Brunnen vor dem Tore oder Guten Abend, gute Nacht.«
Damals hatte Paul dem im Bett unter ihm liegenden jüngeren Bruder, kaum hatte die Mutter die Lampe ausgeknipst, die eigenen philosophischen Theorien als Gutenachtgeschichten verkauft. Man hatte ihm streng verboten, von Gespenstern, Hexen oder Wölfen zu sprechen, weil es verheerende Folgen für die Nachtruhe der Eltern hatte. Meistens stellte Paul dem Jüngeren Fragen, die es in sich hatten, zum Beispiel: »Welche Farbe hat die Nacht?«
Über die erwartete Antwort schwarz lächelte er milde und fabulierte so lange von einem tiefen Violett mit winzigen bunten Pünktchen, bis sich sein kleiner Bruder die gefürchtete Dunkelheit als Schokoladenlebkuchen mit Zuckerstreuseln vorstellte und darüber einschlief.
Mit elf Jahren wurde Paul von einem Freund ausführlich aufgeklärt, was zuvor weder dem Biologielehrer, dem Fernseher oder seinen Eltern in dieser Prägnanz gelungen war. Noch am gleichen Abend versuchte er, seinen Schüler mit den neuen Erkenntnissen vertraut zu machen. Achim verhielt sich zugänglicher als sonst und wollte spezielle Details über die Geschlechtsbestimmung erfahren, und Paul konnte selbst auf knifflige Fragen Auskunft geben. »Wenn es ein Junge werden soll, liegt der Vater auf der rechten Seite, bei einem Mädchen links.«
Nach längerem Überlegen fand Achim es seltsam, daß die Eltern bei einer so einfachen Gebrauchsanweisung noch keine Tochter hergestellt hätten.
»Mama und Papa haben nicht alle Tricks gekannt«, vermutete Paul.
»Und wenn sie aufeinanderliegen?« fragte Achim.
»Dann wird es ein Monster«, scherzte Paul, und der Kleine begann hemmungslos zu schluchzen.
Insgeheim glaubte Paul an eine andere Version: Weil er, als der Ältere, den
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