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Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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der ihr tiefen Eindruck machte.
    Auf der Rückfahrt dachte Annette weder an ihren untreuen Mann noch an ihren verdrossenen Chef oder gar an hydraulische Pressen, sondern ausschließlich an die fraglichen Freuden einer fortgeschrittenen Schwangerschaft. Als sie den Wagen auf dem Parkplatz der Fabrik abstellte, sagte sie unvermittelt: Ich möchte auch ein Kind und erschrak über die eigenen Worte. In all den Jahren ihrer Ehe war sie sich mit Paul darüber einig gewesen, auf Kinder zu verzichten.
    Wenn sie sich allerdings recht erinnerte, war es Paul gewesen, der stets über Familien mit quengelndem Nachwuchs spottete und schon in den Zeiten ihrer ersten glücklichen Liebe gegen Elternschaft plädiert hatte. Annettes Gefühle waren in diesem Punkt ambivalent, sie hatte aber auf keinen Fall Pauls Zuneigung aufs Spiel setzen und ihm mit konträren Zukunftsplänen auf die Nerven gehen wollen. Außerdem war ihr die berufliche Karriere wichtig, und es war klar, daß ein Baby ihre Ziele in Frage stellen würde.
    Schwarzer Gründonnerstag
    Die Tage bis zu Annettes Abreise verliefen ruhig. Paul hatte seine aufkeimende Befürchtung wieder verworfen. Seine Frau hatte wohl doch keinen Verdacht geschöpft, obwohl sie ihn manchmal seltsam ansah, ob traurig oder vorwurfsvoll konnte er nicht deuten. Jedenfalls verhielt er sich mustergültig, löschte alle E-Mails von und an Olga und kam meistens pünktlich nach Hause.
    Schon Tage vor dem Abflug begann Annette, ihren Koffer zu packen. Insgeheim war sie der Meinung, daß auch Paul seine Sachen für Granada heraussuchen müßte, denn sicherlich war es dort wärmer als hier, und er brauchte sommerliche Kleidung. Obwohl er offenbar sehr vorsichtig war, bemerkte sie, daß sein Kulturbeutel fehlte und zwei kurzärmelige Hemden aus hellblauer Baumwolle nicht in der Kommode lagen. Die Vorstellung, daß Olga sie vielleicht waschen und bügeln sollte, bereitete Annette ein schadenfrohes Vergnügen.
    Immerhin schien Pauls Diskretion eher auf eine kurzfristige Affäre als auf eine endgültige Trennung hinzuweisen. Er bot sogar an, sie zum Flughafen zu fahren, wozu er im allgemeinen keine Lust hatte. Wahrscheinlich wollte er sichergehen, daß sie auch wirklich abgereist war. Im
    Internet hatte sie recherchiert, daß es keinen Direktflug nach Granada gab und man entweder in Madrid oder in Barcelona umsteigen mußte. Es war anzunehmen, daß Paul kurz nach Annette abfliegen wollte und Olga samt seinem Gepäck im Terminal treffen wollte. Eine Maschine nach Madrid startete genau zwei Stunden später.
    Am Gründonnerstag hätte Annette fast ihren Flug verschlafen, was sie für ein schlechtes Omen hielt; Paul hatte ebenfalls den Wecker überhört. In aller Eile galt es nun, in die Kleider zu fahren und aufzubrechen. Das sei ihr noch nie passiert, klagte Annette mißgestimmt, aber sie hätte eine schlechte Nacht gehabt und wisse nicht, warum.
    »Reisefieber?« fragte Paul ein wenig spöttisch, weil seine Frau stets damit angab, wie selbstverständlich und unaufgeregt sie in ferne Länder aufbrach.
    Dann saßen sie in Pauls alter Karre, die längst nicht so komfortabel war wie Annettes Wagen. Um ihre Abwesenheit zu nützen, hatte sie nämlich ihren Saab zur fälligen Inspektion in die Werkstatt gebracht.
    Er brauche nicht so zu rasen, ermahnte sie, wenn sie in keinen Stau kämen, müßte es locker zu schaffen sein. Es gefiel ihr gar nicht, daß Paul bei jeder Gelegenheit die Überholspur benutzte. Durch seinen unkonzentrierten Fahrstil übertrug er seine eigene Aufregung schließlich auch auf sie.
    Als Pauls Handy klingelte, vermutete Annette sofort, daß sich Olga nach dem Stand der Dinge erkundigen wollte.
    Wer das denn sein könnte? fragte Paul mit Unschuldsmiene, ob Annette bitte mal abnehmen könne, vermutlich stecke das Handy in seiner Jackentasche.
    Annette sah sich um und entdeckte den Sakko auf der hinteren Ablage. Aber wie sie sich auch mühte, ihre Arme waren zu kurz, um heranzureichen. Da das aufdringliche Geräusch nicht enden wollte, löste sie den Sicherheitsgurt und angelte sich Jacke und Telefon.
    Es war nicht Olgas Stimme: »Jean Paul? Wo bist du gerade?«
    »Guten Morgen, Helen«, sagte Annette zu ihrer Schwiegermutter, »wir sind auf dem Weg zum Flughafen, leider haben wir uns ein bißchen verspätet. Paul kann dich ja nachher zurückrufen.«
    Aber Paul nahm ihr den Apparat aus der Hand. »Hallo, Mama, so früh am Tag? Gibt’s was Besonderes? Wie bitte? Was? Wo liegt er? Kann er

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