Rabenbrüder
Arm lag bereits in Gips, und sie trug eine Halskrause. Als Paul vorsichtig über ihr Haar strich, schlug sie die Augen auf.
»Mädchen, was machst du mir für Sachen«, sagte Markus. »Aber wir kriegen dich schon wieder hin. Du mußt jetzt ein paar Tage brav hier liegenbleiben.« Und zu Paul gewandt: »Vielleicht solltest du ihr später ein paar Sachen bringen.«
Nicht unpraktisch, daß sie ihren Koffer bereits selbst gepackt hat, dachte Paul, der sich sehr nach Ruhe sehnte.
Markus hatte schon ein Taxi bestellt. »Wir wollen Annette jetzt schlafen lassen«, sagte der Arzt. »Und du solltest dich auch hinlegen. Deine Prellungen werden wohl erst später weh tun, ich gebe dir für alle Fälle ein Schmerzmittel mit. Spätestens in einer Woche bist du wieder der alte.«
Jetzt wären wir bereits in Madrid, dachte Paul, als er endlich zu ungewohnter Mittagszeit im Bett lag. Und in Granada wollten wir bei herrlichem Sonnenschein in den Gärten der Alhambra spazierengehen und am Abend Tapas essen. Der eigene Kühlschrank war weitgehend leer, morgen am Karfreitag waren alle Geschäfte geschlossen. Niemand würde ihn versorgen, wo er doch so trostbedürftig und mitgenommen war.
Ob Olga wirklich ohne ihn abgeflogen war oder enttäuscht wieder zu Hause saß und eine Zigarette nach der anderen qualmte? Auf gut Glück versuchte er es auf ihrem mobilen Anschluß. Sie nahm sofort ab.
»Wo bist du?« fragte Paul, so wie es seine Mutter zu tun pflegte.
Olga wartete gerade in Madrid auf den Anschlußflug nach Granada. »Dein Koffer lagert bei der Gepäckaufbewahrung in der Ankunftshalle B«, sagte sie betont sachlich. »Ich wußte nicht, was ich damit machen sollte. Den Gepäckschein habe ich dir bereits zugeschickt, damit du deinen Kram in Frankfurt abholen kannst.«
Anscheinend war sie stinksauer, kein Interesse an seinem Befinden, keine Frage nach Annettes Verletzungen, kein Bedauern. Paul hätte gern eingehender über den Unfall berichtet und sagte etwas ungeschickt: »Gott sei Dank wurden wir im Marienkrankenhaus eingeliefert. Markus hat sich sehr liebevoll um uns gekümmert.«
»Wie schön für euch«, sagte Olga und legte auf.
Nach einem vergeblichen Versuch, im Bett Ruhe zu finden, lümmelte sich Paul im Bademantel vor den Fernseher. Genau wie es Markus prophezeit hatte, begannen seine Prellungen jetzt zu schmerzen.
Als es kurz darauf schellte, standen zwei Polizisten vor der Tür. Sie hätten noch ein paar Fragen zum Unfallhergang, sagten sie und übergaben ihm Annettes Koffer, ihre Handtasche, sein Handy und andere Gegenstände, die sie aus dem Autowrack herausgeholt hatten.
Kaum waren sie mit dem Protokoll fertig und schickten sich zum Gehen an, klingelte es erneut. Paul öffnete die Haustür, die Beamten wünschten zum Abschied gute Besserung, Achim trat ein.
»Na, Bruderherz, wie geht’s?« fragte der unerwartete Gast.
Paul konnte sich zwar denken, daß seine Mutter die Buschtrommel gerührt hatte, war aber trotzdem überrascht.
»Ich war gerade auf dem Weg nach Colmar, als Mama anrief«, berichtete Achim. »Vor lauter Aufregung konnte sie kaum sprechen. Erst mußte Papa ins Krankenhaus gebracht werden, dann habt ihr direkt unter ihren wachsamen Ohren einen Unfall gebaut. Also habe ich mein gutes Essen im Elsaß sausenlassen, denn mir fiel das Familienmotto wieder ein: Blut ist dicker als Wasser.«
Paul mochte diesen Spruch nicht, aber er wollte Achim nicht gleich mit Kritik empfangen. Seit langem waren sich die Brüder nur im Mainzer Elternhaus begegnet. Im Gegensatz zu Paul wohnte Achim in Mamas Nähe und konnte an jedem Sonntagsbraten partizipieren.
Überall gab es gutes Essen: bei der Mutter, bei Olga, in Granada, im Elsaß - nur nicht bei mir, dachte Paul. Wohl oder übel würde er sich ein Stück hartes Brot mit Quark bestreichen müssen, aber zuerst sollte er dringend eine Schmerztablette schlucken. Als er aufstand, um sich ein Glas Wasser zu holen, mußte er unwillkürlich stöhnen.
Achim schüttelte den Kopf. »Bleib mal schön auf dem Sofa«, sagte er, »heute feiern wir Brudertag! Ich hole dir ein Glas Wein und koche dann für uns. Was hättest du denn gern?«
Das sei doch egal, sagte Paul, er vertraue ihm. Im Grunde war jedoch das Gegenteil der Fall, denn er vermutete, daß sein Bruder nicht viel mehr als eine gefrorene Pizza in den Ofen schieben konnte.
»Darf ich mal in euren Kühlschrank schauen?« fragte Achim höflich. Und nach ein paar Minuten: »Hast du nicht gesagt, daß bloß
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