Rabenbrüder
sprechen?«
Pauls scharfes Abbremsen schien viel zu spät zu kommen. Wie in Zeitlupe sah Annette, daß der Laster vor ihnen von der rechten Fahrbahn nach links ausscherte. Sie wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus. Verflucht, ich muß doch meinen Flieger kriegen, war ihr letzter klarer Gedanke, bevor sie mit einem gewaltsamen Ruck gegen die Windschutzscheibe und wieder zurückgeschleudert wurde. Sekundenlang schien ihr alles wie ein schwereloser Traum, dann hörte sie nur noch das unaufhörliche Klirren von herabrieselndem Glas und empfand eine unendliche Gleichgültigkeit.
Völlig apathisch blieb Paul im Wagen sitzen. Das Handy lag am Boden, und eine verzerrte Stimme schrie ununterbrochen so melde dich doch. Lange galt sein einziges Interesse einem originellen Muster aus zerfließenden roten Tropfen und spinnwebartigem Craquelé auf der Fensterscheibe. Später wußte er nicht zu sagen, wann der Rettungswagen und die Polizisten eingetroffen waren, er erinnerte sich nur, daß ein Sanitäter sagte: Die Frau war nicht angeschnallt, und an seine Adresse: Schockzustand.
Auf der Fahrt zum Krankenhaus kam Annette zu sich; sie lag auf einer Tragbahre, hing an einem Tropf und spürte am linken Arm einen Stich, denn ein Notarzt mit mildem Antlitz gab ihr eine Injektion. Paul neben ihr sah wie ein geisterbleicher Alien aus. Während ihm ein Sanitäter die Blutdruckmanschette anlegte, tröstete ihn der Arzt mit sanften Worten, die von der Sirene übertönt wurden. Annette schloß wieder die Augen. Sie empfand keine Schmerzen und konnte nicht sprechen, aber wirre Gedankenfetzen wirbelten durch ihren Kopf. Mußte sie sterben? Hatte Paul sie umbringen wollen? Als die Spritze wirkte, fiel sie zurück in einen barmherzigen Dämmerzustand.
Es war eine Beruhigung für Paul, daß sie ausgerechnet das Marienkrankenhaus anfuhren. Markus würde sich für die beste Therapie und Pflege seiner Freunde einsetzen.
Wie es seiner Frau ginge? waren seine ersten Worte, als Markus ihn von der Röntgenabteilung abholte.
»Ihr müßt einen Schutzengel haben«, sagte der Arzt, »es hätte sehr viel schlimmer ausgehen können. Annette hat
den linken Arm gebrochen, eine Gehirnerschütterung, ein Schleudertrauma und leichte Schnittverletzungen im Gesicht. Warum um alles in der Welt hatte sich deine Frau nicht angeschnallt? Dann wäre sie - so wie du - bloß mit ein paar Prellungen davongekommen. Wie kam es überhaupt zu diesem scheußlichen Unfall?«
Der LKW-Fahrer vor ihnen habe plötzlich die Spur gewechselt, sagte Paul. Aber eigentlich, dachte er, war seine Mutter an allem schuld, weil sie angerufen hatte. Oder auch sein Vater, weil er krank geworden war. Oder auch er selbst, weil er eine Sekunde lang nicht aufgepaßt und das Handy übernommen hatte. Die einzig Unschuldige war Annette, die am schlimmsten betroffen war. Er müsse dringend telefonieren, sagte er zu Markus, wo denn das verfluchte Handy geblieben sei?
Markus bot ihm einen Cognac und das Telefon im Stationszimmer an.
Paul rief zuerst seine Mutter an, die den Unfall indirekt miterlebt und in panischer Angst bereits bei der Polizei angefragt hatte. Er konnte sie halbwegs beruhigen und erfuhr seinerseits in aller Ausführlichkeit, daß sein Vater nach einem Schlaganfall auf der Intensivstation lag; der Arzt spreche von einer beinbetonten Hemiparese. Weil das Sprachzentrum nur bedingt betroffen sei, könne sich der Kranke einigermaßen verständlich ausdrücken. Im übrigen bestehe keine akute Lebensgefahr.
Der Weinbrand beruhigte tatsächlich. Paul goß sich ein weiteres Gläschen ein, steckte sich eine Zigarette an und fragte seine Mutter, ob er kommen solle.
»Auf keinen Fall, vielleicht in ein paar Tagen«, sagte sie, »kurier dich erst einmal selber aus! Ich halte bei Papa die Stellung.«
»Paß gut auf dich auf, Mama«, sagte Paul. »Sei bloß vorsichtig, damit du nicht noch am Ende vor Aufregung die Treppe herunterfällst. Ich werde täglich anrufen und sobald wie möglich zu dir kommen.«
Schließlich meldete er sich bei Olga, die gerade auf dem Weg zum Flughafen war.
Mit grantigen Worten sagte er die gemeinsame Reise ab. »Wie ich dich kenne, wirst du dich auch ohne mich in Granada amüsieren«, ließ er sie wissen.
Dann informierte er Annettes Sekretärin.
Nachdem Paul so viel erledigt hatte, ließ er sich von Markus zu Annette führen.
Zahlreiche Pflaster in ihrem blassen kleinen Gesicht verhinderten eine Beurteilung ihres Gemütszustands. Der gebrochene
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