Rabenbrüder
Anforderungen seiner Eltern nicht genügte, hatte der Vater wohl oder übel einen weiteren Sohn zeugen müssen. Anscheinend war man mit dem zweiten Resultat aber so zufrieden, daß fortan überhaupt keine Kinder mehr gemacht werden mußten.
In jenem wißbegierigen Alter entdeckte Paul außerdem, daß die geheimnisvollen Schlieren in der Luft in Wirklichkeit auf dem eigenen Augapfel herumschwammen. Immer wieder ließ er den Blick schweifen und staunte über die winzigen wandernden Pantoffeltierchen, die er anfangs als geflügelte Geister deutete. Voller Eifer wollte er seinen Bruder auch auf dieses Phänomen hinweisen, aber Achim zeigte sich nicht sonderlich interessiert.
An seinem zwölften Geburtstag wurde Paul dann ins Mansardenzimmer verlegt, und die abendlichen Gespräche fanden in dieser Intimität nie mehr statt.
Doch heute kamen sie auch auf die Ehe ihrer Eltern zu sprechen.
»Als ich geboren wurde«, sagte Paul, »war Papa ungefähr so alt wie ich jetzt. Früher dachte ich zwar, wir hätten einen besonders greisen Vater, aber das relativiert sich mit der Zeit. So ähnlich geht es mir jetzt sogar mit dem Altersunterschied unserer Eltern. Erinnerst du dich an unsere Mutmaßung, daß Papa sich mit einer viel jüngeren Braut beizeiten seine Alterspflege gesichert habe? Inzwischen fände ich es gar nicht mehr abwegig, mich in eine Zwanzigjährige zu verlieben.«
»Ich dachte, du stehst auf ältere Frauen«, meinte Achim.
Paul schüttelte den Kopf. »Das ist lange vorbei. Annette hat mir nur acht Monate voraus, sie ist praktisch gleichaltrig. Jedenfalls verstehe ich Papa immer besser, seit ich selbst kein Jüngling mehr bin.«
»Ich nicht«, meinte Achim, »und ich glaube auch nicht, daß unsere Eltern glücklich miteinander sind, beziehungsweise waren. Papa hat sich doch kurz nach meiner Geburt aus schierer Eifersucht in ein Baby verwandelt, um ebenfalls gepampert zu werden.«
»Quatsch«, meinte Paul. »Als wir klein waren, hat er bereitwillig Tischfußball und Mau-Mau mitgespielt und uns jedes Jahr zur Flugzeugschau mitgenommen.«
»Du bist immerhin vier Jahre älter als ich und hast solche Sternstunden im Gedächtnis behalten, ich nicht«, behauptete Achim.
An dieser Stelle unterbrach ihn Paul und bat: »Bevor du zuviel Rotwein intus hast, könntest du mir einen großen Gefallen tun. Annette wurde von der Straße weg ins Krankenhaus eingeliefert, ich müßte ihr noch ein paar Sachen bringen.«
»Klar«, sagte Achim und leerte Pauls Aschenbecher aus, »wir fahren sofort zu ihr, damit es erledigt ist.«
Annette hatte sorgfältig gepackt; die Kofferschlüssel steckten in ihrer Handtasche. Paul zerrte die beiden Nachthemden, einen seidenen Kimono, Pantoffeln und Waschzeug heraus und stopfte alles in seine Aktentasche. Trotz der Tabletten schmerzten alle Bewegungen.
Eine Viertelstunde später standen die Brüder am Bett der Patientin. »Bitte nur ganz kurz«, sagte die Krankenschwester, »die übliche Besuchszeit ist längst vorbei.«
Annette blinzelte mit verschlafenen Augen, blieb aber stumm. Paul legte ihre Toilettentasche auf das Waschbek-ken, die Nachthemden ins Regal und tätschelte ihre Hand zum Abschied.
Obwohl der eingegipste Arm eine bequeme Lage verhinderte, schlief Annette bald wieder ein. Seltsamerweise war sie glücklich. Paul war nicht mit Olga nach Granada geflogen; vielleicht hatte dieser schreckliche Unfall ja auch etwas Gutes bewirkt?
Der Ruinenmaler
Im Reich des Adlers
Bruderherz
Vorbei in tiefer Nacht
Der Ruinenmaler
Paul hatte erwartet, daß sein Bruder am Abend wieder abreiste, aber Achim gab zu verstehen, daß er im Gästezimmer übernachten wollte. Schließlich sei es gesetzlich verboten, ein Unfallopfer einfach im Stich zu lassen, sagte er scherzhaft, morgen sei Feiertag, und er habe jede Menge Zeit, um etwas Anständiges zu kochen.
Paul konnte dieses Angebot nicht ohne triftigen Grund ablehnen. Dennoch war er unsicher, ob es nicht Unheil heraufbeschwor, wenn er einen weiteren Tag ausschließlich mit seinem Bruder verbrachte. Da Paul ein durch Alkohol enthemmtes Männergespräch um jeden Preis vermeiden wollte, suchte er nach einer Schlaftablette. In Annettes Handtasche fand sich ein Sedativum; wahrscheinlich hatte sie für den Jetlag Vorsorgen wollen. Also überließ er Achim seine Videokassetten und ging zeitig ins Bett.
Am Karfreitag wurde Paul vom Klang der Kirchenglok-ken geweckt, die ein fast kindliches Gefühl der Geborgenheit in ihm auslösten. Doch kaum wollte er
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