Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
Vom Netzwerk:
sich dehnen und strecken, spürte er einen heftigen Schmerz. Mit einem Klagelaut zog er die Schlafanzughose herunter und bestaunte ein großes blaues Hämatom am Oberschenkel. Von wegen Schutzengel, dachte er und machte am Fenster
    eine zweite unangenehme Entdeckung. Mit bösem Blick verfolgte er das wäßrige Schneegestöber, das er Ende März nicht mehr erwartet hätte, bis hinauf in den bleigrauen Himmel. Olga trank jetzt bestimmt im teuren Parador ein Glas frisch gepreßten Orangensaft und machte Pläne für einen sonnig-heiteren Frühlingstag.
    Ein weiteres Mal überraschte ihn Achim, diesmal mit einem appetitlichen Frühstück. So viel Nettigkeit grenzte an Schleimerei und erweckte Pauls Mißtrauen. Doch vielleicht hatte Achim jetzt die richtige Frau gefunden, und eine große Liebe konnte ja angeblich Berge versetzen und sogar einen Nichtsnutz das Kochen lehren.
    Draußen schneite es weiter. »Welche Farbe hat der Schnee?« fragte Paul versonnen.
    »Weiß«, antwortete Achim vorschnell, denn schon schwante ihm, daß es komplizierter war. Also fuhr er fort: »Es sei denn, ein Auspuff, ein Hund oder eine blutende Nase waren im Spiel.«
    Paul triumphierte: »Falsch!« Wenn Achim auch nur eine Sekunde überlegt hätte, dann wäre ihm klargeworden, daß jeder Niederschlag so farblos und durchsichtig wie Wasser und Eis sei. Da die Schneekristalle das Licht aber millionenfach reflektierten und brachen, erschienen sie wie im Märchen: weiß wie Schnee.
    Achim sah lange zum Fenster hinaus und beobachtete skeptisch die Flocken, die sich auf dem brüchigen Dach eines Schuppens ansammelten. »Früher hast du gern gezeichnet«, erinnerte er sich. »Soviel ich weiß, waren es meist architektonische Skizzen. Hast du noch Zeit für solche Hobbys?«
    Im Urlaub schon, log Paul (denn es gab in seinem beruflichen Alltag genügend Leerlauf). Leider könne er nicht aus dem Gedächtnis zeichnen und brauche Vorbilder. Menschen und Tiere interessierten ihn allerdings weniger, er bevorzuge nach wie vor Bauwerke, am liebsten Ruinen.
    Achim nickte zustimmend, als hege er ebenfalls eine Vorliebe für die Ästhetik des Verfalls. Ehrfürchtig bat er darum, die gesammelten Werke einmal anschauen zu dürfen.
    Bevor Paul seine Arbeiten herauskramte, zögerte er kurz. Er ahnte durchaus, daß seine belehrenden Ausführungen die meisten Zuhörer langweilten, auch zeigte er seine Skizzen und Zeichnungen nicht gerade gern, denn er war sich ihrer Unvollkommenheit bewußt.
    Schließlich präsentierte er Achim seine Ansichten des Heidelberger Schlosses. »Hoffentlich kannst du meine Faszination ein wenig nachvollziehen«, meinte Paul, »aber an Piranesi oder Caspar David Friedrich darfst du mich natürlich nicht messen.«
    Sein Bruder lächelte dümmlich.
    Jetzt kämen aber erst seine Lieblinge, sagte Paul mit Wärme, wahrscheinlich erinnere sich Achim, daß ihre Oma mit Inbrunst Gedichte rezitiert hätte. Da habe es eine ewig lange Ballade gegeben, die sie auswendig wußte.
    Sein Bruder schüttelte den Kopf.
    »Eine Zeile hat mich tief beeindruckt«, fuhr Paul fort:
    Noch eine hohe Säule zeugt von verschwundner Pracht, Auch diese, schon geborsten, kann stürzen über Nacht.
    »Deswegen fing ich an, Säulen zu malen, aber sie mußten geborsten sein.«
    Achim lachte auf, als handele es sich um einen Kalauer, und nahm Paul die Mappe aus der Hand.
    Die erste Zeichnung war gleichzeitig das Titelbild. Neben einem wackligen Obelisken stand in altmodischer Schnörkelschrift: Die letzte Säule. Es folgten Skizzen von Pfeilern, Kolonnen, Streben und Stützen, Halbsäulen mit Koren und Atlanten, Ausschmückungen mit Palmen, Adlern und Lotosknospen, dorische, ionische und korinthische Kapitelle. Alle Säulen wiesen indes Zerstörungen auf oder lagen bereits am Boden. Durch wucherndes Gras und Disteln hatte Paul der vergänglichen Pracht sogar einen Hauch Natur zur Seite gestellt.
    Je länger Achim herumblätterte, desto mehr schien ihn das Sujet zu belustigen. »Du bist mir ja ein rechter Säulenheiliger!« rief er. »Soll ich mal raten, was ein Psychologe dazu sagen würde?«
    Paul verzog unwillig das Gesicht.
    Mit dem Symbol des gestürzten Phallus wolle Paul seine Impotenz künstlerisch aufarbeiten, witzelte Achim.
    Paul war tief gekränkt und brauste auf.
    »Reg dich nicht gleich auf«, begütigte Achim, »war bloß ein Scherz. Im übrigen hat doch jeder Mann gelegentlich Versagensängste.«
    Doch für Paul, der absolut nichts von Laienpsychologie hielt, war

Weitere Kostenlose Bücher